Erzähldebüt Trügerische Erinnerungen

Ein mächtiger deutscher Literaturkritiker stellte einst das Gesetz auf, Lyriker seien per se nicht in der Lage, vernünftige Prosa zu schreiben. Vielleicht aber ist so manche Enttäuschung über einen Roman nicht dem Autor, sondern den Kritikern selbst zuzuschreiben: Wer vom Verfasser außergewöhnlicher Gedichte nun gleich auch den außerordentlichen Roman erwartet, bleibt nicht selten desillusioniert zurück. Um dem Leser den Desillusionierungsprozess zu ersparen, kann man es nicht geschickter angehen, als es die 1979 in Großenhain (Sachsen) geborene Schriftstellerin Ulrike Almut Sandig mit ihrem Prosadebüt "Flamingos", das in der kommenden Woche im Verlag Schöffling & Co erscheinen wird, getan hat: klein anfangen, die Latte niedrig legen - und sie dann mit einer solch frappierenden Leichtigkeit überspringen, die jedem klar macht, dass dazwischen noch viel Luft für höhere Sprünge ist.
Sandig ist ohne Zweifel eine der jungen deutschen Lyrikerinnen, die am meisten Beachtung verdienen: Die beiden wichtigsten Nachwuchspreise, den Meraner Lyrikpreis und den Leonce- und Lena-Preis, hat sie bereits gewonnen. Und sie ist gleichzeitig ein Beispiel für den geradezu klassischen (Ausbildungs-)Werdegang einer Gegenwartsautorin: Nach abgeschlossenem Studium der Religionswissenschaft und Indologie ging sie ans Deutsche Literaturinstitut nach Leipzig (DLL). Daneben gab sie bis 2009 die Zeitschrift EDIT heraus, veröffentlichte zwei Gedichtbände und beklebte im Zuge ihres Projektes "augen::post" Plakatwände in Leipzig mit Gedichten. Anfang dieses Jahres schloss sie ihr Studium am DLL ab - eine Schriftstellerin mit Diplom.
Es könnte alles so gewesen sein. Möglicherweise auch ganz anders.
Das kann, wie die Erfahrung zeigt, auch schiefgehen. Hier jedoch nicht. Ganz bewusst hat Sandig für ihre Prosatexte die Gattungsbezeichnung "Geschichten" gewählt - keine klassischen Erzählungen, nicht auf die Pointe hingeschrieben, nicht zwanghaft auf Überraschungseffekt gebürstet. Manchmal ist es ein geradezu märchenhafter Ton, der Sandigs Texte trägt, und nicht selten verwischen die Grenzen von Wahrscheinlichkeit und Surrealem, ohne ins Abstruse abzugleiten. Schon die ersten Sätze des Bandes "Flamingos" geben die Poetologie vor: "Das ist die Geschichte von jemandem, den es nie gegeben hat. Sie handelt von mir. Ehrlich gesagt ist es keine Geschichte, in der besonders viel passiert. Ich kann weder berufliche noch familiäre Höhepunkte vorweisen, auf die ich hoffnungsvoll oder gelegentlich auch größenwahnsinnig hingearbeitet hätte." Diese relativierende Erzählerebene bleibt in jeder der Geschichten präsent, mal offen und konkret, dann wieder verdeckt. Der doppelte Boden, der hier eingebaut ist, ermöglicht jederzeit die Relativierung. Es könnte alles so gewesen sein. Möglicherweise aber auch ganz anders.
Die Erinnerung ist das zentrale, verbindende Element, das die elf Geschichten zusammenhält - sie mag zuverlässig sein oder eben auch trügerisch. So ist es in "Hush little Baby" die Mutter eines Jungen namens Kai Arno, die sämtliche ihren Sohn betreffende Zeitungsmeldungen in einem Ordner sammelt, um das Geschehen zu sortieren. So wird daraus eine abgeschlossene Geschichte, die es in Wahrheit natürlich nicht ist. Kai Arno sollte eigentlich zwei sein - der Gynäkologe hatte Zwillinge vorausgesagt; geboren wurde jedoch nur ein Kind mit zwei unterschiedlichen Augenfarben, das beidhändig schreiben und malen kann, eine auffällige musikalische Begabung zeigt und eines Tages von einer Brücke geweht wird. Man kann, das ist der Kniff daran, das als realistische Literatur lesen. Oder als eine große Flunkerei.
Auch die mit rund 40 Seiten längste (und beste) Geschichte von "Flamingos" spielt auf die Märchenebene an: "Mutabor" erzählt auf verschiedenen Zeitebenen von der Schulfreundschaft zweier Mädchen, eine der beiden ist blind. Es geschieht scheinbar nicht viel in diesem so ruhig und kontrolliert laufenden, dezenten Text, und dennoch ist am Ende die eine tot und die andere möglicherweise erwachsen - die Verwandlung steckt bereits im Titel. Diverse Motivketten durchlaufen "Flamingos", sie sind geschickt und unaufdringlich inszeniert und sauber zusammengehalten. Ulrike Almut Sandig ist eine Prosaschriftstellerin, die an der Autonomie des Fiktionalen festhält. Mit "Flamingos" hat sie sich eine Spielwiese eröffnet. Nun darf man darauf warten, dass sie Ernst macht.