Soziologin Illouz über "Shades of Grey" Regelwerk für Lust und Leid

Animalische Spiele: Die "Shades of Grey"-Bücher gehen schneller weg als "Harry Potter"
Foto: CorbisHaben Sie schon mal eine sadomasochistische Sexphantasie gehabt? Wenn es Ihnen so wie mir geht, dann hatten Sie noch keine, und Sadomasochismus kommt Ihnen sogar vor wie ein exotisches und weit entferntes Land. Angenommen, ich ähnele langweiligerweise der Mehrheit der Menschen, erscheint der weltweite und phänomenale Erfolg von "Shades of Grey" - einer Liebesgeschichte mit BDSM (Abkürzung für Bondage & Discipline, Dominance & Submission, Sadism & Masochism, Anm. d. Red.) als zentralem Motiv - rätselhaft.
Viele Kommentatoren erklären den Erfolg viel zu leichtfertig damit, dass er ebenso Resultat wie auch Beweis dafür sei, wie weit die Porno-Kultur in den Mainstream vorgedrungen sei - die Beglaubigung dessen, was früher in den Heftstapeln unterm Bett versteckt war und heute in den Suchverläufen der Internetbrowser versteckt ist. Erotikliteratur gibt es aber schon sehr lange, außerdem ist die Bandbreite von sexuell ungewöhnlichem Verhalten sehr groß. Deshalb lässt sich so nicht erklären, warum ausgerechnet ein Buch über eine BDSM-Beziehung den unheimlichen Erfolg hat, den "Shades of Grey" nunmal hat. Ein paar Zahlen: Mehr als zehn Millionen Exemplare der Trilogie wurden bislang weltweit erworben, die Rechte wurden in 37 Länder verkauft, die Bücher gehen schneller weg als "Harry Potter".
Wenig überraschend hat "Shades of Grey" unter Feministinnen in den USA und Großbritannien eine heftige Debatte darüber ausgelöst, ob Unterwürfigkeit eine gewalttätige oder emanzipatorische Phantasie für Frauen darstellt. Bevor wir uns in die Diskussion über die politische Agenda des Buches stürzen, würde ich als Kultursoziologin vorschlagen, dass wir zunächst versuchen zu verstehen, wieso das Buch seinen Leserinnen und Lesern so viel Vergnügen bereitet - auf der symbolischen statt der sexuellen Ebene.
Bestseller sind immer etwas rätselhaft: Meistens kann keiner ihren Erfolg vorhersehen. Wenn sie dann aber mal Erfolg haben, erscheint es, als wäre dieser unvermeidlich gewesen. Wie können wir also erklären, dass "Shades of Grey" nicht nur so erfolgreich wurde - sondern das auch noch trotz seiner haarsträubenden literarischen Mängel?
Er ist anders als andere Männer...
Soziologen verstehen unter Bestsellern Bücher, die auf drei verschiedene Weisen unseren gesellschaftlichen Erfahrungen entsprechen: Sie enthalten einige sehr vertraute Aspekte unserer gesellschaftlichen Erfahrungen; sie thematisieren die konfliktbeladenen, schwer greifbaren und verwirrenden Momente dieser Erfahrungen; und sie bieten eine symbolische, imaginierte Antwort auf diese Verwirrung.
"Shades of Grey" ist wie eine ganz gewöhnliche Romanze strukturiert. Die Geschichte spielt in Seattle. Im Mittelpunkt steht die Studentin Anastasia Steele, die noch Jungfrau ist, als sie den sehr attraktiven und erfolgreichen Christian Grey trifft. Zum ersten Mal in ihrem Leben verspürt sie starkes sexuelles Verlangen und findet in Grey einen außergewöhnlichen Sexualpartner. Tatsächlich ist er anders als andere Männer: Er will nur eine Beziehung mit ihr eingehen, wenn sie einen Vertrag unterschreibt, der sie zu seiner Untergebenen macht - einen Vertrag, der ihm erlaubt, ihr Klapse und Schläge zu geben, und sie dazu verpflichtet, den Blick in seiner Gegenwart zu senken, nur so viel zu schlafen, wie er es ihr vorschreibt, und nur das Essen zu essen und die Kleidung zu tragen, die er für sie auswählt. Zusätzlich zu diesem Vertrag soll sie eine Verschwiegenheitsklausel unterschreiben, damit nichts die Art und Weise ihrer Beziehung betreffend an die Öffentlichkeit dringt.
Bis auf den Umstand, dass der BDSM-Vertrag im Mittelpunkt steht, stellt das Buch die perfekte Mischung aus ganz gewöhnlicher Liebesgeschichte und aufgeladenem Erotikroman dar. Das ist vertrautes Terrain. Spätestens seit dem 19. Jahrhundert erzählen Romane immer wieder die Geschichte einer Frau, die auf der Suche nach der Liebe ist und dabei einen attraktiven, aber gleichzeitig düsteren und bedrohlichen Mann trifft, der erst später zu erkennen gibt, dass er sie liebt und ihr ergeben ist. "Shades of Grey" betritt auch noch vertrautes Terrain, indem es der mittlerweile zwanghaft gestellten Frage nachgeht, welche Bedeutung frei ausgelebte Sexualität im Leben einer Frau haben soll. Eine Frage, die vor allem Serien wie "Sex and the City" oder kürzlich auch die überaus beliebte HBO-Produktion "Girls" popularisiert haben. Die vielen Ausprägungen von Sexualität sind außerdem auch durch das vertraut geworden, was einige die "Pornifizierung" der Kultur nennen, also den Durchbruch von Pornografie in den Mainstream.
"Dieses Freundinnen-Ding gibt's mit mir nicht"
In "Shades of Grey" wird die bekannte Suche nach Liebe und gutem Sex dafür benutzt, um die immer wieder aufs Neue verwirrende Frage zu stellen, die längst zur Hauptbeschäftigung von Psychologen und Soziologen, Künstlern und Schriftstellern, aber auch gewöhnlichen Leuten geworden ist: Was wollen Männer und Frauen, wenn sie zusammen sind?
Die Beziehung, die sich nach und nach zwischen Christian und Anastasia entwickelt, ist geprägt von ihren unterschiedlichen Bedürfnissen, die wiederum durch ihre Geschlechterrollen geprägt sind: "Dieses Freundinnen-Ding gibt's mit mir nicht", sagt er immer wieder, ergänzt durch "Ich mache keine Liebe... ich ficke hart." Sie wiederum ist ganz davon in Beschlag genommen, wie sehr sie ihn begehrt, wie schwer es ist, mit seiner Unnahbarkeit und seinen Stimmungsschwankungen klarzukommen ("Seine plötzliche Distanziertheit lähmt mich."), und wie sehr sie gleichzeitig an sich selbst zweifelt und davon überrascht ist, begehrt zu werden ("Er will mich?").
Eigentlich wollen aber beide dasselbe: dass der/die andere ihn/sie genauso begehrt, wie er/sie sich das wünscht. "Er muss mich so wollen, wie ich es will", sagt sie sich ständig, während er immer wieder darauf pocht: "Ich will, dass du mir gefallen willst." Beide wollen frei bleiben, und beide wollen den anderen ihrem Willen und ihrer Begierde unterwerfen. Das ist in der Tat das hegelianische Rätsel, an dem sich moderne Sexual- und Romantikbeziehungen abarbeiten - meistens heillos. Das ist außerdem der Grund, weshalb moderne Liebesbeziehungen so voller Ambivalenzen (also widerstrebender Emotionen und Wünsche), Unsicherheiten (wir verstehen nie ganz genau, was die Regeln und was ihre Folgen sind) und Unentschiedenheit sind (in der Klemme zwischen beiläufig und verbindlich, zwischen schmerzhaft und genussvoll, zwischen sicher und angespannt).
Die Lösung dieses endlosen Rätsels liegt im Sadomaso-Vertrag, der nur auf den ersten Blick wie eine Hürde für die wahre Liebe erscheint. Ich würde sogar so weit gehen und den Sadomaso-Vertrag als höchst plausible Alternative zur komplizierten und stets ergebnisoffenen Beziehungsarbeit bezeichnen. Dafür sprechen mehrere Gründe:
- Die BDSM-Beziehung vereint per definitionem Schmerz und Genuss, weshalb sich in ihr die Widersprüche herkömmlicher Beziehungen, die beständig zwischen Schmerz und Genuss schwanken, auflösen.
- Eine der größten Herausforderungen, die moderne Beziehungen heute darstellen, ist die Aufgabe von Autonomie, weil dabei unser Selbstwertgefühl auf dem Spiel steht. Der Sadomaso-Vertrag ermöglicht das logisch und psychologisch eigentlich Unmögliche: Durch ihn gibt man freiwillig seinen freien Willen auf und ordnet sich jemand anderem unter.
- Das Gebot der Gleichheit, für das der Feminismus seit mehr als 40 Jahren eintritt, verlangt ständiges Aushandeln. Der SM-Vertrag zieht einen Strich unter den Dauerhandel, indem er karikaturenhaft überzogene Rollen und Verhältnisse in Kraft setzt. Tatsächlich macht BDSM Ungleichheit akzeptabel, weil sie einvernehmlich, vertraglich abgesichert und auf Genuss abzielend zustande gekommen ist.
- Nicht zuletzt ist eine Sadomaso-Beziehung nur zwischen zwei Menschen, die sich vollständig vertrauen, möglich. (Der Dominante hört sofort auf, dem Devoten Schmerz zuzufügen, wenn der oder die das Codewort sagt.) So gesehen ist BDSM die Ausformung des seltensten aller Güter - Vertrauen.
So werden unsere gewöhnlichen, heterosexuellen Beziehungen letztlich queer: Sie sind so kompliziert und flüchtig, so unmöglich vorherzubestimmen und zu kontrollieren, dass sie uns eine enorme Kunstfertigkeit abverlangen - ständig müssen wir zwischen verschiedenen Rollen wechseln, Grenzen verhandeln und uns auf unsere eigenen Ambivalenzen und die der anderen einen Reim machen. Wenn gewöhnliche Beziehungen queer geworden sind, dann bietet BDSM, wie es die Romanze zwischen Christian und Anastasia nahezulegen scheint, tatsächlich einen Ausweg aus dieser queerness - und einen Einstieg in erotische Extase ohne die Angespanntheit, die Ambivalenz und Unsicherheit mit sich zu bringen.
BDSM: Der zeitgemäße, utopische Gegenentwurf zur Durchschnittsbeziehung?
Aus dem Englischen von Hannah Pilarczyk