"Fast ein neues Leben" von Anna Prizkau Diese Fremdheit in ihr

Einfach nur ein Wort zum Beispiel, in der falschen Sprache. Und schon verschwindet dieses mühsam erarbeitete Gefühl des Dazugehörens und der Sicherheit, löst sich auf in Nichts. Es stimmt halt nicht. Ihre Herkunft weist sie als die Andere aus. Niemals wird sie mit dieser Selbstverständlichkeit all der Selbstverständlichen um sie herum zum Beispiel mit ihren Eltern telefonieren können. Es klingt bei ihr eben anders, fremd, falsch, verkehrt. Ihr neues Leben ist nur "fast" ein neues Leben. Das alte klebt unlösbar an ihr dran. Und drängt sich immer dann hervor, wenn sie es überhaupt nicht gebrauchen kann.
Anna Prizkau, 1986 in Moskau geboren, in den Neunzigerjahren mit ihren Eltern nach Deutschland gezogen, hat wahnsinnig schöne, traurige Geschichten über das Ankommen in diesem Land geschrieben. Über die "Fremdheit in mir", wie das der türkische Nobelpreisträger Orhan Pamuk mal genannt hat. Die Fremdheit in ihr.
Die Stories hängen alle zusammen. Die Figuren-Konstellation ist immer ähnlich, eigentlich ist es ein kleiner Episodenroman über das Leben einer jungen Einwanderin auf schwankendem Grund. Die Mutter wollte nicht in das neue Land. Sie ging, vom Optimismus und Erinnerungswunsch des Vaters gezogen, mit. Um hier nie anzukommen. Nicht glücklich zu werden. Der Vater - neuer Job, neue Herausforderung, neue Kollegen - lebt auf. Beginnt das neue Leben mit ganzer Kraft. Die Mutter versinkt allein in ihrer Vergangenheitssucht. Ein Riss in der Ehe. Je entschlossener und erfolgreicher der Mann hier ankommt, desto größer wird die Einsamkeit der Frau. Depressionen, Klinik, das Unglück wird größer, ganz von selbst.
Perfekte Haut, perfekte Eltern, perfekte Deutsche
Die Erzählerin, die Tochter, ist wild entschlossen, den Vaterweg zu gehen. Akzent wegtrainieren. Sprechen, wie alle sprechen. Freunde suchen, Liebhaber suchen, die perfekt sind. Perfekte Haut, perfekte Eltern, perfekte Deutsche.
Die Geschichten erzählen von einem Leben, das die innere Zerrissenheit mit aller Macht verleugnen will. Vor den anderen und vor sich selbst. Und wie das immer wieder nicht gelingt. Wie sie auch von ultratoleranten Dozenten an der Uni beim Kennenlernspiel, als es um die Herkunft geht, gegen ihren Willen in die Ecke des Ostens gestellt wird. Da gehörst du hin. Wie im Sozialamt der Sachbearbeiter sie für ihr makelloses Deutsch lobt, sie sich aber dafür seine Hand auf ihrem Bein gefallen lassen muss.
Fast ein neues Leben: Erzählungen (Friedenauer Presse)
Preisabfragezeitpunkt
31.05.2023 23.13 Uhr
Keine Gewähr
Anna Prizkau zeigt die haarfeinen Risse im stabilen Haus der Toleranz und des Dazugehörens. Welche Mühen es kostet, zu sein wie alle. Oder wie man glaubt, dass alle sind. Das verdammte Schweigen. Und die offene Stelle immer wieder: die Eltern zu Hause. Die um jeden Preis im Verborgenen bleiben müssen. Wenn einer dieser makellosen Freunde zu ihr nach Hause käme und hörte, wie die Eltern reden, mit welchem Akzent, in welcher Sprache, dann wäre alles, alles, alles umsonst gewesen. Die ganze Tarnung, für immer dahin.

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"Das fremde Leben in einer fremden Sprache in einem fremden Land. Das Lügen im neuen Land. Das Schweigen und Verschweigen. Der Wunsch, so auszusehen, so zu sprechen wie alle anderen. So zu sein wie sie. Die Angst vor dieser einen Frage: Woher kommst du?"
Die meisten Demütigungen sind leise
Zugleich ist die Erzählerin aber auch super empfindlich, wenn sie bei anderen Migranten zu große Angepasstheit zu erkennen glaubt. Verleugnung der eigenen Herkunft. Ein indischstämmiger Junge zum Beispiel, der eines Tages seinen Turban ablegt, um sich unauffällig anzupassen und einzureihen, kann ihrer ganzen Verachtung sicher sein. Die Icherzählerin sieht in ihm ihren eigenen Verrat gespiegelt.
Anna Prizkaus Storys des Ankommens sind auch ein geschwisterliches Buch zu dem gerade erschienenen "Frausein" von Mely Kiyak, in dem die Tochter kurdischer Einwanderer ihren langen Weg zum selbstbewussten Ich in autobiografischen Texten beschreibt.
Prizkau, Feuilleton-Redakteurin der "FAS", schreibt ich-fundierte Fiktionen in einer schönen, knappen, klaren Sprache. Die meisten erlebten Demütigungen sind unauffällig, leise, werden in ihrer Prosa vorsichtig ans Licht geholt. Nur einmal reicht ein falsches Wort, abends in der Straßenbahn ins Telefon gesprochen, ein öffentliches Wort in der alten, sonst so sorgsam verborgenen alten Sprache. In einem Telefonat mit ihrem Vater. Drei Männer wollen das nicht hören: "Sie schrien, dass sie mich nicht sehen wollen in ihrem Land. Dass ich hier nichts verloren hatte. Dass man hier ihre Sprache spricht und keine andere. Der erste Tritt traf mein Gesicht, er traf die Lippe. Das Reißverschlussgeräusch. Sie traten ihre Füße in meinen Körper. Als ob sie etwas, das tief in mir versteckt war, zertreten und zerstören wollten."
Die Erinnerung daran bleibt. Aber dass sie es nicht zerstören können, davon erzählt dieses mutige, kämpferische, schöne Buch.