Ferienliteratur Lockruf des Gebirges

Ein Urlaubsflirt in der Sommerfrische wird durch einen Leichenfund gestört: Mit "Sommerliebe" hat Gabriela Zapolska einen wunderbaren Roman über einen Fast-Ehebruch und dessen Folgen geschrieben – vor 103 Jahren. Nun wird ihr Werk wiederentdeckt.
Von Katrin Hillgruber

Der Freiheitsdrang der polnischen Landadeligen Maria Korwin-Piotrowska muss für eine Frau ihrer Zeit unbändig gewesen sein. Unter ihrem Künstlernamen Gabriela Zapolska spielte sie nicht nur in Frankreich Theater, nachdem sie einer frühen standesgemäßen Ehe entronnen war, sondern brachte auch das uneheliche Kind ihres Intendanten zur Welt und avancierte später zur Bestsellerautorin und oft aufgeführten Dramatikerin, vor allem mit ihrem Erfolgsstück "Die Moral der Frau Dulska".

Gabriela Zapolska (1857–1921) galt als "polnischer Zola", da sie ihren Blick konsequent auf die unteren sozialen Schichten richtete und betont realistisch schrieb. Sie interessierte sich in besonderem Maße für die weibliche Psyche und besuchte zu diesem Zweck verschiedene psychiatrische Kliniken in Paris, darunter die von Jean Martin Charcot geleitete Salpêtrière, die auch Sigmund Freud als Assistenzarzt kennengelernt hatte. Für eine polnische Zeitung schilderte sie einen makabren Maskenball in der Frauenabteilung, voller greller Details und "Exkursionen in die Schattenzonen der Sittlichkeit", wie Hannelore Schlaffer in ihrem Nachwort zu "Sommerliebe", Zapolskas Erfolgsroman aus dem Jahr 1905, treffend bemerkt.

Obwohl nach ihrem Tod 1921 eine neunbändige Ausgabe ihrer Romane auf Deutsch erschien, geriet Gabriela Zapolska hierzulande weitgehend in Vergessenheit. Völlig zu Unrecht, wie die elektrisierende "Sommerliebe" in Karin Wolffs hochmoderner Übersetzung beweist, ein Ehebruch-Roman ohne Ehebruch.

Im gutbürgerlichen 19. Jahrhundert wurde es Mode, die Sommersaison zur Erholung im Gebirge zu verbringen. Dabei sollte es möglichst standesgemäß zugehen, worüber sich nicht nur Zapolskas Zeitgenosse Octave Mirbeau in seinem Gesellschaftsroman "Nie wieder Höhenluft oder Die 21 Tage eines Neurasthenikers" (1901) boshaft amüsierte. Erholungsbedürftige Polen wie Zapolskas Heldin Tuska Zebrowska zog es in den gebirgigen Süden des geteilten Landes, nach Zakopane in der Hohen Tatra. Zakopane hat seine Entdeckung als Ferienort dem Warschauer Medizinprofessor Tytus Chalubinski zu verdanken, der sich 1873 dort niederließ. Er machte die Tatra und seine urigen Bewohner, die Goralen (gòra: Berg), bei der patriotischen Elite des Landes bekannt und lockte sie in den Luftkurort mit seinen kunstvoll geschnitzten Holzhäusern.

Die Warschauerin Tuska Zebrowska, von ihrem langweiligen Ehemann ("ein überflüssiges Geschöpf") stets zu Sparsamkeit und Pflichterfüllung angehalten, reist mit ihrer liebreizenden Tochter Pita in die Berge. Hier kann sie endlich Atem holen und als Laiendarstellerin ihrer künstlerischen Ader folgen. Das hat sie ihrer Bekanntschaft mit dem Schauspieler und Frauenliebling Porzycki zu verdanken, der nicht nur als ökologischer Reformer in Erscheinung tritt, sondern ihr sehnsuchtsvolles Herz bei ausgedehnten Wanderungen im Sturm erobert. Doch ausgerechnet, als ihre Leidenschaft sie hinzureißen droht, stolpern die Verliebten über eine Leiche – einer der zahlreichen tragikomischen Effekte, die die scharfe Beobachterin Zapolska dramaturgisch geschickt plaziert.

Und sie weiß außerdem tief in die Seelen der Männer zu blicken: Tuska, zur Scheidung entschlossen, fährt widerwillig zu ihrer Familie und den vorwurfsvollen Topfpflanzen heim, denn der vermeintliche Freigeist Porzycki macht in letzter Sekunde einen Rückzieher: Tuska erscheint ihm mit einem Mal als zu bürgerlich. Was als harmloser Flirt in der Sommerfrische beginnt, endet für diese polnische Madame Bovary in Resignation und seelischer Zerrüttung. Auch nach gut hundert Jahren hat der satirische Scharfsinn der Avantgardistin Gabriela Zapolska nichts von seiner Frische eingebüßt.


Buch Gabriela Zapolska: "Sommerliebe". Aus dem Polnischen von Karin Wolff, Nachwort von Hannelore Schlaffer. Manesse, Zürich/München; 720 Seiten; 24,90 Euro.

Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren
Mehrfachnutzung erkannt
Bitte beachten Sie: Die zeitgleiche Nutzung von SPIEGEL+-Inhalten ist auf ein Gerät beschränkt. Wir behalten uns vor, die Mehrfachnutzung zukünftig technisch zu unterbinden.
Sie möchten SPIEGEL+ auf mehreren Geräten zeitgleich nutzen? Zu unseren Angeboten