"Fleisch" von Simone Meier Blätterteigstangen statt Sex

Ja, ja, Essen ist der Sex des Alters
Foto: imagoSie steht nach dem Schwimmen in der Umkleide des Hallenbads, da fällt Annas Blick auf etwas am Boden. Ein "Klumpen von grauem Schleim, wenige Zentimeter vor ihrem rechten großen Zeh". Anna nimmt ein Taschentuch, bückt sich, wischt es auf - und schaut es sich genauer an. Doch es ist nur ein Wassertropfen mit ein paar Flusen.
Es hätte etwas faszinierend Groteskes sein können - ist aber dann nur banales Wasser mit Beilage. So ähnlich ist der Effekt, der sich bei Simone Meiers Roman "Fleisch" einstellt, in dem jene Anna, Mitte 40, sich fast obsessiv mit Körperlichkeiten jeder Konsistenz befasst. Das Thema steckt in jeder Faser des Buchs, vom zart marmorierten Stück Rind auf dem Einband bis zum Titel.
Und vor allem in der Geschichte, die die Figuren erzählen: Anna, die Frau aus der Kulturförderung, und Max, der Lehrer aus der benachbarten Kleinstadt, die in einer undefinierten Nicht-Beziehung verharren, bis sie sich irgendwann nicht mehr beieinander melden - beide in einem Alter, in dem auf einmal rein biologisch Grundsätzliches im Raum steht. Das Leben, das noch bleibt, schrumpelt zusammen auf das, was der Körper halt noch so hergibt. "Das Blöde am Leben war ja dies", heißt es etwa: "Alles ließ sich auswechseln, der Job, die Wohnung, der Mensch im Bett, nur dieser verdammte Körper war in seiner Grundsubstanz immer der gleiche."

Autorin Simone Meier
Foto: Dominique Meienberg/ Kein & AberEs hätte also ein Roman werden können, der klischeefrei zeigt, wie sich die Körperidentitäten von Frauen und Männern um die 50 wandeln, wie sie ihre bislang gelebte Sexualität in Frage stellen und sich eine neue erfinden. Literatur darüber gibt es noch viel zu wenig, noch dazu von Frauen - ohne auf Triefendes von Peter Sloterdijk und Martin Walser verweisen zu müssen, auf präzise Beobachtetes von Wilhelm Genazino oder Bodo Kirchhoff oder aufs Gesamtwerk von Alice Munro.
Welches Potential in Meiers "Fleisch" vorhanden ist, scheint in einigen bestechenden Passagen auf, etwa als sie Anna feststellen lässt, dass "sie im Spiegel nicht mehr sich selbst erkannte, sondern andere Frauen: ihre Mutter, ihre Tante, ihre Großmutter, ja sogar die Urgroßmutter. Die plötzlich alle von ihr Besitz ergriffen. Von ihrem Gesicht, ihren Brüsten, ihrer Mitte, ihren Beinen." Doch statt die Auseinandersetzung mit diesen gespiegelten Frauenbildern weiterzutreiben, bleibt es nur bei diesem kurz aufblitzenden Gedanken.
Preisabfragezeitpunkt
01.04.2023 04.28 Uhr
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Dass Meiers Fleischbeschau leider im Banalen hängen bleibt, liegt zum einen daran, dass sie sich nicht auf das Duo Anna und Max konzentriert, sondern das Ensemble zerfasernd ergänzt: Neben Annas - natürlich! - schwulem Freund Cédric steht im Zentrum vor allem eine kakerlakenverseuchte WG um die kellnernde Studentin Lilly, ihren kleinen Teenagerbruder und Sue. Alle sind separat mit Anna und Max verbunden, was sich für das Ex-Paar aber erst am Schluss, in einer Art Showdown mit Zusammenbruch, herausstellt. Allein diese Konstellation ist derart unmotiviert konstruiert, dass der narrative Mehrwert rätselhaft bleibt.
Aus dem Klischeekatalog für Midlifecrisis-Typen
Darüber hinaus dienen auch die WG-Figuren als wandelnde Plakatmotive für das Thema "Körper und sexuelle Identität": Lilly ist bisexuell, ihr Bruder malt im Selbstfindungswahn Bilder mit Pinsel und Kacke und, na klar, ritzt sich. Sue ist lesbisch, flucht in Klischees übers Patriarchat und lässt sich von Max regelmäßig für Sex kaufen.
Dazu kommt, dass neben dem Schwimmbadrotz die verschiedenen Aggregatzustände von Körperlichkeit als Leitmotiv auftauchen - nur eben leider nie mit dem Effekt, den Charlotte Roche mit ihren ungerührten Hämorrhoiden-und-Co.-Schilderungen in "Feuchtgebiete" erreicht. Bei Meier gibt es angetrocknete Kotze an Wohnungstüren; einen Frauenhintern, der wie ein aufgequollener Kartoffelsack scheint; Erinnerungsfetzen im "galligen Gelb wie der Auswurf, den man bei Husten und Halsweh am Morgen als Erstes in die Dusche spuckt"; den "prima" Schwanz eines One-Night-Stands, dessen "Farbe [...] erstaunlich appetitlich [war], wie ein besonders schönes Stück Kalbfleisch"; oder den Moment, in dem Max statt die Haut seines Ledersofas auf einmal die seines Oberschenkels aufschlitzt und kotzt. Kann man machen - wenn es weitere Ebenen öffnet. Aber, tja.
Der einzige Gegenentwurf, den die Autorin für ihre Figuren Anna und Max anbietet, ist der Konsum: Fernsehserien, die sich selbst obsessiv um Produktwelten und Körperideale drehen wie "Germany's Next Topmodel", Selbstfindungsurlaube nach Italien wie aus dem Klischeekatalog für Midlifecrisis-Typen, inklusive Sportwagen und italienischer Frauen, Abende auf Ebay, auf der Suche nach Schmuck oder Espressotassen. Und natürlich die Mutter aller Altersstereotypen, hier der Schlichtheit halber direkt zitiert: "Fick mich doch mit einer Blätterteigstange, dachte sie, wenn Essen der Sex des Alters war, dann war sie gerade hundert Jahre alt geworden." Oder an anderer Stelle: "Sie richtete ihre ganze libidinöse Energie auf ein imaginäres Stück Brot mit Knochenmark und Salz und spürte, wie die warme Markmasse über ihr Kinn rann."
Mitunter wirkt es, als versuche Meier, die als Kulturredakteurin beim Schweizer Onlineportal "Watson " arbeitet, ihre Verweise auf Popkultur und Konsumgesellschaft vor dem Klischeevorwurf zu schützen - indem sie refrainartig eine Metaebene einzieht: Kommentierende Sätze wie "Das klang wie aus einem dieser Frauenromane, dachte sie, schrecklich" oder "Wären sie eine TV-Serie, so wären sie jetzt erst in der Pilotfolge" tauchen so oft auf, dass von "meta" nicht mehr viel bleibt.
Bis die Generation der Um-die-50-Jährigen sich mit ihren Körpern endlich ohne Phrasenalarm in der Literatur wiederfindet, bleibt eben doch nur Plan B: ein blutiges Stück Roastbeef und danach, warum nicht, einen Schnaps. Oder zwei.