Schriftstellerin Annie Ernaux über Corona-Alltag "Ich habe große Angst davor, mich an diese 'kontaktlose' Welt zu gewöhnen"

Autorin Annie Ernaux
Foto: CATI CLADERA / Agencia EFE / IMAGODie Buchmesse ist ein Ort des Diskurses. In diesem Jahr müssen wir ihn virtuell stattfinden lassen. Anstelle eines Gesprächs am Messestand haben sich Intellektuelle, Schriftstellerinnen und Schriftsteller bereit erklärt, in einem SPIEGEL-Fragebogen Auskunft zu geben. Hier antwortet die französische Autorin Annie Ernaux.
Annie Ernaux, Jahrgang 1940, zählt zu den bedeutenden Schriftstellerinnen der Gegenwart und war in diesem Jahr unter den Favoriten für den Literaturnobelpreis. Ernaux beschreibt in kühlen, analytischen Werken ihre biografischen Erfahrungen, ihren sozialen Aufstieg aber auch das Leben der einfachen Leute im Frankreich des vorigen Jahrhunderts. Sie agiert in Frankreich auch als öffentliche Intellektuelle, deren engagierte Stellungnahmen große Resonanz finden. Ihre Bücher haben zahlreiche Preise gewonnen und erscheinen in Deutschland im Suhrkamp Verlag.
Wie ist Ihre gegenwärtige Geistesverfassung?
Die Frage könnte genauso gut lauten: Wie fühlen Sie sich? Bei dem, was uns mit der Pandemie widerfährt, geht es mehr um das Fühlen als um präzises Denken. Denn es ist schwierig, die dazu nötige Distanz zu gewinnen, angesichts von etwas völlig Neuem und Unerwartetem, das aber doch schon lange dauert und sich im Laufe der Monate auch verändert. Soweit ich mich zurückerinnern kann, bin ich jemand, der neugierig ist auf die Gegenwart und auf das, was mit mir, mit anderen geschieht. Mit dieser Neugier betrachtete ich zunächst auch das Eindringen des Virus, seine tödliche Präsenz, die von der französischen Regierung mit Verspätung bekannt gegeben wurde.
Doch bald mischte sich Zorn in meine Empfindungen - Zorn über einen Staatspräsidenten Macron, der eine kriegerische Pose einnahm, mit der er zu verbergen hoffte, dass die Krankenhäuser und das Pflegepersonal jahrelang vernachlässigt wurden. Und ich hoffte, dass die Millionen Eingeschlossenen von diesem beispiellosen Moment an das Leben, wie man es sie leben lässt, politisch und sozial infrage stellten - umso mehr, als in Frankreich ein starkes Bewusstsein für die Bedeutung wesentlicher, aber schlecht bezahlter und wenig beachteter Arbeitsplätze vorhanden ist.
Heute, da das Ende der Pandemie in immer weitere Ferne rückt, weiß ich nicht, wohin diese lange Zeit der Ungewissheit, die noch vor uns liegt, mit ihren wirtschaftlichen, kulturellen und psychologischen Folgen uns führen wird. Was den Schutz der Natur, den Schutz des Lebens angeht, sind die Signale in Frankreich zum Verzweifeln. Für den Präsidenten der Republik gibt es derzeit nichts Dringenderes, als das Verbot eines gegen Muslime gerichteten "Separatismus" gesetzlich zu verankern. Pestizide sind im Anbau der roten Bete wieder erlaubt. Das alles ähnelt doch sehr der Alten Welt. Aber ich war nie in der Lage, ohne Hoffnung zu leben...
Corona, Klimawandel, soziale Ungleichheit, Digitalisierung - wo sehen Sie die größte Bedrohung für eine humane Gesellschaft?
Die größte Bedrohung ist der durch menschliche Aktivitäten verursachte Klimawandel, die zügellose Ausbeutung der natürlichen Ressourcen, des Wassers, der Wälder, der Einsatz von Pestiziden. Diese Veränderung führt bereits jetzt zu Hitzewellen, die es in Europa in dieser Frequenz noch nie zuvor gegeben hat. In meinem Garten kann ich sehen, wie die Koniferen von Sommer zu Sommer stärker austrocknen, eine Birke ist gerade gestorben, es gibt fast keine Bienen mehr auf dem Lavendel. Die Auswirkungen des Klimawandels haben zwar nicht die Heftigkeit des Coronavirus, aber nach Ansicht der Wissenschaftler werden sie irgendwann völlig irreversibel sein.

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Vor vierzig Jahren war ich gegen die Kernenergie, aber ich sah im Fortschritt und der Industrialisierung Faktoren der sozialen Gerechtigkeit. Flugreisen, Ananas und Mangos essen, Jeans und T-Shirts wechseln zu können – das war nicht mehr nur einer Handvoll reicher Leute vorbehalten, wie ich es als Kind kannte. Aber diese Möglichkeiten halten nicht nur tief greifende kulturelle, bildungspolitische und wohnungspolitische Ungleichheiten aufrecht. Angesichts des Klimawandels ist es sicher, dass sich die wohlhabenden, oberen Bevölkerungsschichten in ihren klimatisierten Wohnungen und Büros davor schützen können, während die schlechter gestellten Menschen in ihren beengten Wohnungen, öffentlichen Verkehrsmitteln und auf Baustellen unter der Hitze leiden werden.
Die Covid-19-Pandemie ist ein Vorgeschmack auf das, was uns mit dem Klimawandel bevorsteht: ein Virus, das jeden betrifft, aber seine Opfer vor allem unter denen fordert, die sich nicht vor ihm schützen konnten, vor allem, weil sie die Kontinuität des täglichen Lebens und der Gesundheitssysteme gewährleisten. Die scheinbar egalitäre Maßnahme des Lockdowns erwies sich als schrecklich für Familien, die in kleinen Wohnungen eingesperrt waren, ohne Computer, damit ihre Kinder aus der Ferne zur Schule gehen konnten, während die Bessergestellten in ihre Zweitwohnungen aufs Land zogen und gebildete Eltern die Arbeit ihrer Sprösslinge überwachten. Und welcher Bronx-Straßenfeger mit Covid-19 erhielte die gleiche Behandlung wie Trump?
Liberté, égalité, fraternité – welcher der drei Begriffe der Französischen Revolution braucht eine Wiederbelebung?
Die Gleichheit. Die Ungleichheit prägt so sehr das Gefüge der Gesellschaft, dass es aussichtslos erscheint, sie zu bekämpfen. Ungleichheit beginnt mit der Geburt, je nachdem, ob man in einem wirtschaftlich oder kulturell privilegierten Umfeld zur Welt kommt oder eben in einer Familie, die kaum genug Geld zum Überleben hat. Um für mehr Gleichheit zu sorgen, gibt es mindestens zwei Maßnahmen, die ich für besonders wichtig halte: das drastische Besteuern von Erbschaften über einen noch festzulegenden Schwellenwert hinaus und den öffentlichen Schulen wieder jenen Platz zuzuweisen, der ihnen zukommt, den ersten nämlich.
Über welches Problem denken Sie gerade nach?
Die Lage der Migrantinnen und Migranten, denen gegenüber sich die Europäer verhalten, als wären es keine Männer und Frauen wie sie. Wir haben Alan Kurdi vergessen, den kleinen syrischen Jungen in rotem T-Shirt und blauen Bermudashorts, dessen Foto im September 2015 um die Welt ging.
Vermittelt die Pandemie irgendeine Botschaft?
Es sind mehrere: Erstens, dass der kleinste und älteste lebende Organismus, das Virus, in der Lage ist, unsere Welt auf den Kopf zu stellen, Flugzeuge und Züge zu stoppen und die Wirtschaft in die Knie zu zwingen. Wir sind nicht die Herren der Welt, und wir müssen unseren Platz in der Natur neu überdenken. Die Pandemie zwingt uns, den unbegrenzten Fortschritt, den immerwährendem Konsum als finalen Zweck von allem und jedem infrage zu stellen. Sie zwingt uns, den Tod - verleugnet, verborgen und im Altersheim versteckt - als eine gegenwärtige und kollektive Realität zu denken. Wir sind auch aufgefordert, uns Fragen zu stellen über das Verhältnis zwischen individueller Freiheit und gesundheitlichen Geboten. Dabei ist es gut möglich, dass diese Botschaften, diese Warnungen vergessen werden, sobald der Impfstoff gefunden wurde - leider.
Gibt es eine Überzeugung, der Sie seit der Jugend treu geblieben sind?
Dass der Erwerb von Wissen und Kultur das Ziel jeder Politik sein muss.
Wie hat Corona Ihren Alltag beeinflusst?
Covid-19 hat mein In-der-Welt-Sein auf einzigartige Weise verändert, indem es mich über mein Alter, an das ich sonst nicht denke, als "Risikoperson" definiert. Ich denke eher daran, ob ich gesund bin, gehen kann oder mich müde fühle. Jetzt bin ich dauernd mein Alter. Ich nehme keine öffentlichen Verkehrsmittel mehr, ich gehe nicht mehr in das große Einkaufszentrum oder ins Kino. Das physische Eintauchen in das, was ich als Leben im Freien bezeichne, ist aus meinem Leben weitgehend verschwunden. Auf der Straße, im Supermarkt macht die Maske, die die Ausdrücke der Menschen auslöscht, sie mir irgendwie gleichförmig und gleichgültig. Ich habe große Angst davor, mich an diese "kontaktlose" Welt zu gewöhnen, wie das bei den Kreditkartengeräten heißt, also Telefon und E-Mails als normale Möglichkeiten des Austauschs mit anderen zu betrachten, unmerklich zu "mutieren", wie ein Virus...
Kennen Sie eine Lieblingszeile oder einen Zauberspruch, mit dem man gut durch diese Zeiten kommt?
"Wenn nichts kommt, kommt immer Zeit" - Henri Michaux
Was macht Ihnen Mut?
Ganz einfach: Am Leben zu sein.
Aus dem Französischen von Nils Minkmar.