

SPIEGEL ONLINE: Herr King, mit englischen Hooligans gab es dieses Jahr keinen Ärger bei der WM. Südafrika war wohl doch zu weit weg.
John King: Genau. Heute reist eine andere Sorte Fans mit England zu den Turnieren. In den Qualifikationsspielen gibt es noch einige von der alten Schule, denn da ist es nicht so glamourös. Aber bei der WM sind die Tickets extrem teuer, alles ist durchkommerzialisiert und die Polizeiüberwachung ist sehr strikt.
SPIEGEL ONLINE: Klingt, als würden Sie die Gewalt vermissen.
King: Fan kommt von Fanatismus. Als ich 1976 das erste Mal zu einem Chelsea-Heimspiel ging, standen 20.000 Teenager auf der Tribüne. Damals ging es ums Singen, ums Herumschubsen. Es war vor allem Spaß.
SPIEGEL ONLINE: Die Vuvuzela-Spieler haben heute doch jede Menge Spaß.
King: Ich finde das alles seltsam, auch Trommeln oder Megafone. Man sollte selbst den Krach machen und nicht etwas anderes den Krach machen lassen.
SPIEGEL ONLINE: Und sich selber prügeln? Wurde nicht unter anderem aus diesem Grund die Premier League in England etabliert?
King: Man hat den Fußball zerstört mit der Premier League. Man hat reine Sitzplatzstadien gebaut. Die brauchte man nicht, aber mit den höheren Preisen wurden die Leute verdrängt, die man nicht mehr haben wollte. Dafür lockte man einen neuen Kundentypus an. Es heißt oft, die Premier League sei die beste Liga der Welt. Falsch. Die Stimmung ist ziemlich tot in vielen Stadien.
SPIEGEL ONLINE: Vorher gab es Tote. Denken Sie an die Katastrophe von Heysel, als beim Europapokalfinale 1985 zwischen Liverpool und Juventus Turin in Brüssel 39 Menschen ums Leben kamen.
King: Das ist der Hintergrund meines Buches "The Football Factory". Nach Heysel ging es bergab. Für viele war Fußball kein Spiel mehr. Dann kamen die Überwachungskameras und eben die Premier League. Aber die großen Clubs haben nach wie vor noch ihre Hooligangruppen, bei wichtigen Spielen können sie noch immer jede Menge Leute mobilisieren. Es wird heute nur weniger berichtet.
SPIEGEL ONLINE: Und die Spannungen zwischen den Milieus haben sich im Zug der Wirtschaftskrise weiter verschärft. In Ihrem Buch bezeichnen sich die Hauptfigur Tom und seine Gang-Kollegen selbst als "White Niggers", als gesellschaftliche Außenseiter.
King: Die herrschende politische Klasse blickt nicht nur herab auf Minderheiten, sondern auch auf die gewöhnlichen Weißen. Diese Leute fühlen sich vollkommen ohnmächtig. Sie dürfen sich nicht mal wirklich beklagen, denn wenn sie das tun, werden sie als Rechtsextremisten verurteilt.
SPIEGEL ONLINE: Dennoch hassen die meisten Hooligans ihre migrantischen Mitbürger.
King: Klar, man beschimpft zum Beispiel die Schwarzen, aber es gibt in meinem Buch auch ein schwarzes Hooligan-Gang-Mitglied, und das war in den Neunzigern ja tatsächlich so. Am Ende wissen alle, dass die farbigen Jungs genauso sind wie sie. Und umgekehrt behandeln manche, die Worte wie "Nigger" peinlich vermeiden, Schwarze viel schlechter. Mir ging es um das Abbilden der Realität, und letztlich ist das Schimpfen auf die Schwarzen eine Fortführung des Stammesgehabes zwischen den Fußballclubs.
SPIEGEL ONLINE: Warum ist gerade Fußball der Ort, wo all diese männlichen Obsessionen - Gewalt, Gang-Mentalität, Stammesverhalten - ausgelebt werden können?
King: Es ist ein Theater, es wird in den Medien darüber berichtet, es gibt eine klare Bilderwelt. Der Ablauf ist kontrolliert, auch wenn es manchmal zu Auseinandersetzungen kommt. Und wie ich in "Football Factory" schreibe: Fußball ist weit weniger gefährlich als Krieg. Es geht nicht darum, Leute umzubringen.
SPIEGEL ONLINE: Gehen Sie eigentlich noch zu Chelsea-Spielen?
King: Nicht mehr oft. Ich finde es ziemlich deprimierend. Die Stimmung ist raus, viele sind keine wirklichen Fans. Vielleicht sollten wir absteigen. Dann würden all die Luxusfans abhauen, und Chelsea würde wieder ein richtiger Fußballverein werden. Zurück in die kleinen Stadien, wo es mehr Spaß macht und die Karten billiger sind.
Das Interview führte Felix Bayer
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