Geballtes Unwissen Das Keine-Ahnung-Lexikon

Aal-Sex, Kugelblitze, Kurzsichtigkeit: Die Welt ist voller Rätsel - und für etliche gibt es keine Erklärung. Die schrägsten sind jetzt in einem Buch zusammengefasst worden. Heraus kam ein Lexikon des Unwissens.
Von Stefan Schmitt

Niemand weiß genau, wie Aale sich fortpflanzen. Technik und Zweck der Ejakulation beim Menschen-Weibchen sind ebenso ungeklärt. Für Kugelblitze gibt es viele Erklärungen, aber keine Klarheit, welche davon stimmt. Dasselbe gilt für das sibirische Tunguska-Ereignis, Trinkgeld und Kurzsichtigkeit. Selbst beim allgegenwärtigen Wasser lässt sich frappierend viel beobachten, "worauf es bisher keine Antwort gibt".

Diesen Untertitel trägt das "Lexikon des Unwissens" von Kathrin Passig und Aleks Scholz. Ich habe es konsequent nur in der U-Bahn gelesen, und mein Arbeitsweg ist kurz. Ideal für die Häppchen des Buchs, das genau zweiundvierzig solcher Aal-, Kugelblitz- und Tunguska-Anekdoten versammelt.

42. Zweiundvierzig. Zwo-und-Vierzig: Diese Ziffer steht in der Popkultur für den kleinsten Kanon von Erkenntnis und Ironie. In Douglas Adams' "Per Anhalter durch die Galaxis" rechnete der Computer "Deep Thought" 7,5 Millionen Jahre lang, um schließlich diese Zahl auszuspucken - als Antwort auf das Leben, das Universum und den ganzen Rest. Dieses Zitat ist ebenso voraussetzbar wie seine Pointe, nämlich, dass die Hüter des Rechenapparats im Laufe der Äonen die anfangs gestellte Frage schlicht vergessen haben. Mehr verlangt die Vulgärpostmoderne nicht, oder, besser gesagt, mehr muss man bei Kneipen- und Kantinengesprächen zum Thema Wissen nicht wissen, solange man es mit - sagen wir - Unter-Zweiundvierzigjährigen zu tun hat. Doch was wissen wir übers Nichtwissen?

"Wissenslücken entstehen gewöhnlich durch die alte Kulturtechnik des Vergessens", beginnen Passig und Scholz ihre bloß zehn Seiten fassende Einführung ("Wissenswertes über Unwissen"). Diese führt von einem Gedicht des US-Verteidigungsministers Donald Rumsfeld über geografische Metaphern (Issac Newton: "Was wir wissen, ist ein Tropfen. Was wir nicht wissen, ist ein Ozean") über Nobelpreisträger und Quantenphysik zum Wissenschaftsmagazin "Science" und zum Higgs-Boson, einem bislang unentdeckten Elementarteilchen. Auch Douglas Adams wird gestreift. Die Methode ist assoziativ-anekdotisch: Mehr Klammer, mehr Rahmen gibt es nicht. Den Rest der gut 200 Seiten füllt eine Folge von Kleinstkapiteln. Es ist kein Sachbuch übers Unwissen, es ist ein Kuriositätenkabinett für die Aufmerksamkeitsgesellschaft.

Serielle Non-Fiction

Die Themen seien "nur teilweise nach Relevanz ausgewählt", räumt das Autorenduo freimütig ein. Dass man nach der Lektüre der 42 Anekdoten den Eindruck hat, diese seien einzig nach Unterhaltungswert ausgewählt, spricht für sein handwerkliches Geschick. Und immerhin vermittelt das Buch darüber hinaus ein Bauchgefühl dafür, welches Ausmaß das Unbekannte immer noch hat - selbst im Alltag.

Gut zu wissen, aber was soll das? Am Anfang des Projekts stand mitnichten Klamauk. Vielmehr beziehen sich Passig und Scholz auf das Forschungsprojekt "Nichtswissenskulturen", das zwischen 2003 und 2007 an der Universität Augsburg stattfand. Aleks Scholz ist Astrophysiker und forschte an den Universitäten Toronto und St. Andrews in Schottland. Passig ist der zentrale Kopf hinter dem Berliner Autorenkollektiv Zentrale Intelligenz Agentur (ZIA). Beide schreiben für deren Grimmepreis-gekröntes Weblog "Riesenmaschine". Frühere Veröffentlichungen zeigen: An Intellekt für einen schwereren Brocken hätte es beiden nicht gemangelt.

Verbindliche Flapsigkeit gegen Furcht und Ehrfurcht

Doch Autoren wie Ben Schott, Christian Ankowitsch und Mitchell Symons machen seit Jahren vor, was beim mainstreamigen Sachbuch Trend ist: Listen, listige Listen und listenartige Aufzählungen. Der Erfolg von "Schott's Sammelsurium" aus dem Jahr 2003 und seiner schier endlosen Fortsetzungen beweist, welcher Beliebtheit sich das simpelste aller Ordnungsprinzipien erfreut. Diesen Bedarf zu bedienen kann man keinem Verlag vorwerfen. Auch wenn das Wissen schmerzt, dass die Form noch namenlos ist.

Almanach, Sammelsurium, Handbuch? Eklexikon

Vor Passig und Scholz haben auch schon die Autoren des SZ-Magazins ihre Liste der Neologismen und Modewörter "des frühen 21. Jahrhunderts" ein Lexikon genannt. Immerhin enthielt es 500 alphabetische Einträge. Als Realwörterbuch bezeichnet dieser Begriff "Nachschlagewerke zu Sachgegenständen", wie uns das vielleicht größte, die Wikipedia, verrät. Vollständigkeit mag die Utopie von Lexikonmachern alter Schule sein, am Anspruch eines breiten Überblicks arbeiten sie sich aber ab. Das dünne Büchlein von Passig und Scholz mit seinen eklektischen 42 Kapitelchen (von A wie Aal bis W wie Wasser) ist in jeder Hinsicht das Gegenteil eines Lexikons.

Die Konkurrenz hat es mit Almanach, Sammelsurium, Universal-Handbuch versucht. Auch das war nicht passender. Verlagsmanager wetten sicher längst hohe Eurobeträge auf den Begriff, der die lohnende Form der willkürlichen Liste einst angemessen beschreiben wird. Denn was dem Spielfilm die Serie, das ist dem Sachbuch das Eklexikon.

Horden von Pendlern und Zwischendurchlesern werden diesen Herbst häppchenweise erfahren, worauf es bisher keine Antworten gibt. Sie werden sich wohlfühlen, denn Bachmann-Preisträgerin Passig und Astrophysiker Scholz produzieren präzise jenen post-populärwissenschaftlichen Duktus, der seit Bill Brysons "Kurzer Geschichte von fast allem" leicht lesbare Nonfiction auszeichnet: Solide Recherche hinter verbindlicher Flapsigkeit verstecken, das nimmt dem Laien sein Minderwertigkeitsgefühl gegenüber schweren Themen und schlauen Forschern.

Die Einen, so zeigt die Lektüre, können auf jeder U-Bahn-Fahrt etwas schlauer werden. Die Anderen strampeln lebenslänglich im Hamsterrad des Erkenntnisgewinns - ohne jede Aussicht, jemals fertig zu werden. Kathrin Passig und Aleks Scholz gewinnen dieser Sisyphosierung des Wissenschaffens etwas Positives ab: "Schließlich wollen auch in Zukunft noch Menschen dafür bezahlt werden, in Labors zu stehen und sich ratlos am Kopf zu kratzen."

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