Simenon-Romane Sex ist nur ein anderes Wort für Verzweiflung

Rau, ungeschönt, körperlich: In seinen Romanen entwirft Georges Simenon ein ebenso finsteres wie mitreißendes Bild vom Verhältnis der Geschlechter. Diogenes veröffentlicht eine Auswahl von 50 seiner besten Bücher - die auch zeigt, wer das Vorbild für fast alle französischen Präsidenten ist.
Simenon-Thema Sexualität: Dystopische Beziehungsskepsis

Simenon-Thema Sexualität: Dystopische Beziehungsskepsis

Foto: STR/ AFP

Die Hürden auf dem Weg zu Georges Simenon sind denkbar niedrig. Und denkbar hoch. Wird er auch anerkannt als einer der psychologisch einfühlsamsten und unterhaltsamsten Schriftsteller des 20. Jahrhunderts, kann einen gerade das fast allgegenwärtige Lob für ihn abschrecken. Nichts ist weniger einladend als die Begeisterung von Fans für ihr Idol.

Nach der Gesamtausgabe der 75 Maigret-Krimis veröffentlicht Diogenes derzeit eine Auswahl mit 50 weiteren Romanen Simenons - den Romanen ohne Maigret. Es dürfte die einzige Buchreihe der Welt sein, die durch eine Figur charakterisiert wird, die nicht darin vorkommt. Anders als in den Maigret-Krimis geht es in den Romanen ohne Maigret um Politik, um die Geschichte des 20. Jahrhunderts - und um raue, ungeschönte Körperlichkeit. Die wäre undenkbar gewesen in der Welt des Pariser Pfeifenrauchers Maigret, der den Geschlechtsverkehr längst gegen sehr viel Alkohol und gelegentliche Bummel über den Boulevard Richard-Lenoir getauscht hat.

Selten hat Georges Simenon derart Vollgas gegeben wie im Roman "Die Komplizen": Nur folgerichtig, dass das Buch auf der Straße beginnt. Joseph Lambert, ein Bauunternehmer ist irgendwo in der französischen Provinz mit seiner Geliebten unterwegs. Unkonzentriert - er hat gerade die Hand in ihrem Schritt - verursacht er einen grauenhaften Verkehrsunfall, kann von der Polizei aber nicht überführt werden. Befeuert von einer Mischung aus Paranoia, verdrängten Schuldgefühlen und Auflehnung gegen die ebenso geordneten wie verlogenen Verhältnisse seines eigenen Lebens, entwickelt sich Lambert binnen weniger Tage vom Bürger zum Outcast - anders, als für Steve Hogan, Hauptfigur in Simenons strukturell ähnlichem Roman "Schlusslichter", kann es für ihn keine Hoffnung geben.

Hard-boiled-Krimi

So finster und rasant "Die Komplizen" endet, beginnt der "Schlusslichter": Ein Paar, das sich nichts zu sagen hat, macht sich am verkehrsreichsten Wochenende des Sommers von New York aus auf, die Kinder aus einem Feriencamp abzuholen. Schnell verspürt Steve unbändige Lust auf den einen oder anderen Drink. Seine Frau läuft ihm davon, doch Steve hat bereits einen neuen Reisegefährten gefunden: einen entsprungenen Sträfling. Was sich wie der Auftakt zu einem Hard-boiled-Krimi liest, wird nach einer überaschenden Wendung zu einem moralisch grundierten Stück über Unaufrichtigkeit sich selbst und dem Ehepartner gegenüber.

Simenons Beziehungsskepsis nimmt in vielen seiner Romane dystopische Ausmaße an. "Der Buchhändler von Archangelsk" und "Der Uhrmacher von Everton" sind nicht nur ähnlich betitelt, ihre Hauptfiguren, der Buchhändler Jonas Milk und der Uhrmacher Dave Galloway, sind beide Außenseiter, die vom selben Frauentyp verlassen wurden: jung, promisk, starker "Duft nach Frau" (wie es bei Simenon immer wieder heißt).

Da keimt der Verdacht, dass es sich um Männerphantasien handelt. Und doch ist Simenon ein zu empathischer Erzähler, als dass er auch nur eine seiner Figuren preisgeben würde, bloßes Objekt für den Voyeurismus des Lesers zu sein. "Der Buchhändler von Archangelsk" ist ein zärtlicher Roman, auch wenn Zärtlichkeiten darin kaum vorkommen. Ganz beiläufig geprägt von den Farben, der Stimmung des französischen Hinterlands in Richtung Bourgogne - und von der Traurigkeit dessen, der dort nicht dazu gehört. "Der Uhrmacher von Everton" ist sogar ein richtiger Liebesroman - nicht über die Liebe von Männern und Frauen, sondern über die Liebe eines Vaters zu seinem Sohn.

Monströses Über-Luder

Die Ex-Ehefrauen im "Buchhändler von Archangelsk" und im "Uhrmacher von Everton" mögen Luder sein, doch sie sind kindliche, fast drollige Luder. Yvette, weibliche Hauptfigur in "Im Falle eines Unfalls" verhält sich dazu wie ein monströses Über-Luder. Und ist - das nennt man wohl die Dialektik des männlichen Blicks - doch nur umso zerbrechlicher. Wie Catherine Tramell in "Basic Instinct" (dessen Autor sich für die berühmteste Szene des Films bei Simenon bedient haben dürfte) genügt Yvette eine einzige Bewegung ihrer Schenkel, um Verwirrung zu stiften: Der Pariser Rechtsanwalt Gobillot verfällt ihr. Wenn irgendwann das Regelwerk einer Amour fou zwischen älterem, fest in der Gesellschaft verankertem Mann und junger, wie Strandgut an seinen Schreibtisch gespülter Frau niedergeschrieben wird, könnte man feststellen, dass Simenon mit "Im Falle eines Unfalls" eine mustergültige Fassung geliefert hat.

Dass Simenon den Nobelpreis nie bekommen hat, ist immer wieder beklagt worden - doch welche These ist langweiliger als die, dass irgendwer zu Unrecht um irgendeinen Preis gebracht worden sei? Wenn es eine Auszeichnung gibt, die Simenon auch posthum noch (er starb 1989 im Alter von 86 Jahren) gebührt, dann ist es die für effektiv geschildertes Romanwetter. Er braucht nur ein paar Sätze - und schon ziehen sich Regen oder Hitze durch das ganze Buch. Ist "Im Falle eines Unfalls" eine herbe Schlechtwettergeschichte, so ist "Der große Bob" von einem sommerlichen Leuchten erfüllt - und das, obwohl es um den Tod geht. "Der große Bob" beschwört ein ganzes Leben, eine Liebe, eine Freundschaft, es ist eines der warmherzigsten Bücher, die Simenon geschrieben hat.

Während es in "Der große Bob" parallel zur Entwicklung der Geschichte irgendwann Winter wird, pfeifen in "Der Präsident" von Anfang an die Stürme ums Haus: Das Buch spielt an der Küste der Normandie. Hier hat sich der ehemalige Ministerpräsident niedergelassen. "Der Präsident" ist eine kammermusikalische Etüde über Resignation. Es ist nicht schwer zu erkennen, dass der alternde Politiker, um den es hier geht, Züge von Charles de Gaulle trägt - oder sind es die von Maigret? Es ist in Frankreich mit Ausnahme von Nicolas Sarkozy eben noch keiner Präsident geworden, der Maigret nicht ein bisschen geähnelt hätte.

Simenons Figuren sind Prototypen ihrer Zeit - und bis heute nicht gealtert. In seinen Büchern zeigt er den weißen Mann des 20. Jahrhunderts als tragische Gestalt: Er beherrscht die Welt - und ist doch ein Außenseiter in ihr.

Zuletzt auf SPIEGEL ONLINE rezensiert: Wsewolod Petrows "Die Manon Lescaut von Turdej", Tony Judts "Nachdenken über das 20. Jahrhundert", Birk Meinhardts "Brüder und Schwestern", Tom Wolfes "Back To Blood" und Victor Serges "Der Fall Tulajew".

Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren