Roman über Flucht aus Syrien Schleichender Zivilisationsverlust

Olga Grjasnowa
Foto: René FietzekHammoudi stammt aus Syrien. Inzwischen ist ihm in Paris die Anstellung als Schönheitschirurg in einem der besten Krankenhäuser der Metropole sicher. Doch er muss noch mal ein paar Tage nach Syrien, um seinen Pass verlängern zu lassen: Voraussetzung für die Aufenthaltsgenehmigung in Paris. Und Einstieg in einen beklemmend realistischen Roman der Autorin Olga Grjasnowa, in dem sie Fluchtgeschichten aus der Hölle des syrischen Bürgerkrieges schildert.
Die aus Aserbaidschan stammende und in Berlin lebende Schriftstellerin liebt rätselhafte Titel. 2012 debütierte sie aufsehenerregend mit "Der Russe ist einer, der die Birken liebt" und legte zwei Jahre später mit dem Roman "Juristische Unschärfen einer Ehe" nach, in dem sie sexuelle Lebensweisen erörterte. Mit "Gott ist nicht schüchtern" kehrte sie dem renommierten Hanser Verlag den Rücken und folgte ihrer Lektorin zum Berliner Aufbau Verlag. Die Story über zwei exemplarische syrische Flüchtlingsschicksale ist hochdramatisch geworden, endet indes ein bisschen zu rührend und dröhnend.
Die aufregenden, spannenden Geschichten mit ihren harten und brutalen wie sentimentalen Momenten erzählt Grjasnowa in klaren, schnörkellosen Sätzen und gliedert sie in kurze Kapitel. Die Dramaturgie der Geschehnisse bestimmt der Krieg in Syrien nach dem Scheitern des arabischen Frühlings im Jahr 2011.
Zwischen Fakten und Fiktion
Zwei Karten am Anfang und in der Mitte des Buches unterstreichen den realistischen Anspruch der Autorin. Grjasnowa wagt das Risiko des Spagats zwischen Fakten und Fiktion. Das gelingt ihr zu gut Dreivierteln des Romans, besonders das Leben im kriegsgeschüttelten Syrien schildert sie lebendig und anschaulich.
Dort, in Damaskus, lebt auch die andere Protagonistin von "Gott ist nicht schüchtern". Wie Hammoudi stammt die Schauspielerin Amal aus einer vermögenden Familie, ihr Vater hat Beziehungen zum Regime. Grjasnowa erzählt aus den privaten Perspektiven ihrer Protagonisten, doch wann und wo immer Amal, ihr Bruder Ali, ihr Geliebter Youssef oder auch Hammoudi ihre Wohnungen verlassen, tauchen sie in die hochnervöse Stimmung auf den Straßen ein, fühlen sich zunehmend bespitzelt, verfolgt, bedroht.
Andererseits geht das normale Leben weiter, das uns Amal, Hammoudi und ihre Cliquen als Angehörige einer wohlhabenden, privilegierten Schicht erkennen lässt, die gern shoppen geht, lieber aus Italien besorgten Espresso aufbrüht als den hier üblichen türkischen Mokka, ausschweifende Poolparties in den Villen der abwesenden Eltern feiert, in edel eingerichteten Eigentumswohnungen lebt.
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Doch die hedonistische Lebensweise bekommt Sprünge. Über Facebook und YouTube erfahren sie von Verhaftungen, Freunde und Bekannte verschwinden. Es trifft auch Amal. "Der Geheimdienst hat sie also gefunden. Amal weiß, dass sie jetzt schnell handeln muss. Mehrere von ihren Freunden wurden bereits verhaftet, andere zu tagelangen Verhören vorgeladen. Sie weiß, dass sie entweder sofort das Land verlassen oder jemanden finden muss, der sich beim Regime für sie verbürgt. Dieser Jemand ist jedoch kostspielig und schwer zu finden."
Flucht übers Meer
Die Brutalisierung des Alltags und der Privatsphäre erlebt Amal in mehrfacher Weise. Gewaltsame Festnahme und Haft unter erbärmlichen Umständen für ein paar Tage, Überfall in der eigenen Wohnung, Besetzung der Terrasse durch Scharfschützen, die die Benutzung ihrer Toilette beanspruchen. Amal flieht. Zuerst nach Beirut, wo sie Youssef wieder trifft, dann türmen beide in die Türkei, zunächst nach Istanbul, schließlich nach Izmir, von wo sie die gemeinsame Flucht übers Meer nach Italien planen.
Hammoudi durchlebt eine so abenteuerliche wie lebensgefährliche "Karriere" als Arzt der Oppositionsbewegung gegen Assad, die provisorische Kliniken in Privaträumen betreibt. Vom IS wird er gezwungen, auch deren Funktionäre zu behandeln.
Planet Deutschland Die Schriftsteller Olga Grjasnowa, Nino Haratischwili und Feridun Zaimoglu diskutieren mit dem SPIEGEL-Autor Volker Weidermann über Populismus, Heimat und die Schönheit der Sprache.
Sonntag, 23. April, 20.00 - 21.30h, im Thalia Theater in Hamburg.
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Der zweite Teil des Buches ist den abenteuerlichen Fluchten gewidmet. Die dazugehörige Karte bildet die Länder des mittleren Ostens ab und reicht bis nach Deutschland: die Flüchtlingsrouten, die in den letzten Jahren Nachrichtenwert erlangt haben.
Olga Grjasnowa gehört zu den Autorinnen, die die deutschsprachige Literatur mit ihrer Weltläufigkeit bereichern. So wird in "Gott ist nicht schüchtern" arabisch, russisch, französisch und englisch gesprochen, Grjasnowa beschreibt wunderbare syrische Gerichte und abenteuerliche Reisewege.
Zivilisationsverlust in Syrien
So detailreich, wie Olga Grjasnowa dem schleichenden Zivilisationsverlust in Syrien Ausdruck verleiht, schildert sie auch die Flucht Almas und Youssefs, die schließlich in Berlin landen. Mit Amina, einem Kleinkind, das sie beim Kentern ihres Schlauchbootes gerettet haben und nun als ihres ausgeben.
Auch Hammoudi verschlägt es nach Berlin. Allerdings geraten die sich überschlagenden Ereignisse auf den letzten Seiten zu kolportagehaft. Schade, setzt die Autorin doch ihr erzählerisches Vermögen ein, um ein Drama der Gegenwart spannend zum Thema ihrer Leserinnen und Leser, also öffentlich zu machen. Das verdient ästhetisch und politisch Respekt.