Günter Grass und die Stasi Großeinsatz gegen den gefährlichen Gast

Die Stasi sah in Günter Grass einen ideologischen Feind und bespitzelte ihn jahrzehntelang. Ein neues Buch belegt, wie der Geheimdienst den Schriftsteller bei seinen Besuchen in der DDR ausspionierte - und der Dichter auch im Osten für einen demokratischen Sozialismus warb.
Von Carsten Holm
Ost-Berlin-Besucher Grass (Stasi-Foto von 1978): Traum vom demokratischen Sozialismus

Ost-Berlin-Besucher Grass (Stasi-Foto von 1978): Traum vom demokratischen Sozialismus

Foto: BStU

Unauffällig hatte sich der Stasi-Mann am Berliner S-Bahnhof Friedrichsstraße postiert. Bald, so wusste er, würde über diese Grenzübergangsstelle ein hochkarätiger Staatsfeind aus dem Westen in die DDR einreisen. Akribisch notierte der Geheimdienstler an jenem Abend des 16. Juni 1978, dass zwei DDR-Bürger "seit 17.55 Uhr" auf den gefährlichen Gast warteten. Ab 18 Uhr, beobachtete er, schauten die beiden Bürger "des öfteren auf die am Bahnhof befindliche Uhr" und wurden "im Gegensatz zu der vorher gezeigten Ruhe offensichtlich nervös".

Laut Stasi-Protokoll begrüßten die beiden Männer ihren Gast um 18.07 Uhr "mit Handschlag". Der Staatsfeind hieß Günter Grass.

Der Wessi hatte sich, wie schon oft, auf den Weg in die DDR gemacht, um in einem privaten Rahmen aus seinen Werken zu lesen und mit Ostdeutschen zu diskutieren. An diesem Abend wurde Grass am Bahnhof Friedrichstraße von zwei Ärzten abgeholt, in der Wohnung eines Ost-Berliner Anästhesisten wollte er vor einem guten Dutzend oppositionell gesinnten Medizinern aus seinem damals neuen Buch "Der Butt" lesen.

Für die Stasi wurde die heimliche Lesereise des Groß-Schriftstellers zum Großkampftag. Ohne dass Grass und seine Zuhörer es ahnten, hatte der Geheimdienst den Auftritt des Dichters mit Hilfe eines Inoffiziellen Mitarbeiters (IM) inszeniert. Von seiner Ankunft bis zu seiner Ausreise um 0.15 Uhr, wiederum über den Bahnhof Friedrichstraße, stand Grass unter ständiger Beobachtung. Was an dem Abend gesprochen wurde, berichtete IM "Schäfer" vier Tage später der Stasi.

Ein neues Buch beleuchtet den nahezu pathologischen Wahn, mit dem der DDR-Geheimdienst Grass zu einem Hauptfeind des Arbeiter-und Bauernstaats stilisierte und bespitzelte. Unter dem Titel "Günter Grass im Visier- Die Stasi-Akte" hat der Journalist Kai Schlüter, 53, rund 2200 Aktenseiten ausgewertet, die in der Birthler-Behörde und in den früheren Bezirksverwaltungen der Stasi archiviert wurden. Schlüter, Redakteur bei Radio Bremen, hat auch Grass und andere Zeitzeugen zu den Akten befragt.

Lehrstück über die Hilflosigkeit der Ost-Berliner Diktatoren

Schlüters Buch ist ein Dokument deutsch-deutscher Kulturgeschichte zu Zeiten der Teilung. Es ist zudem ein Lehrstück über die Hilflosigkeit der Ost-Berliner Diktatoren, die sich vor ihren Bürgern und der Weltöffentlichkeit ebenso entschlossen wie ideologisch gefestigt gerierten - und doch vor Angst schlotterten, dass Grass ihre Untertanen mit seinem Traum vom demokratischen Sozialismus infizieren könnte. Was die Stasi unternahm, so Autor Schlüter, sei "ein Abbild des historischen Konflikts zwischen KPD und SPD in der Weimarer Republik". Der schlimmste Feind sei die Sozialdemokratie gewesen, und die SED habe befürchtet, dass ihr sogenannter real existierender Sozialismus "von innen her aufgeweicht" werden könnte. Grass, der stets eine große Nähe zu den SPD-Oberen gepflegt habe, sei "die Verkörperung dieser Gefahr" gewesen.

Erwin Strittmatter

Klar, dass Grass fast ausschließlich von hochrangigen Offizieren überwacht wurde. Klar auch, dass nahezu alle Gesprächspartner des Schriftstellers aus der DDR-Kulturszene Zuträger des Geheimdienstes waren. Schlüters Buch listet die Spitzel auf: Der Schriftsteller lädt Grass 1961 zu einem Kongress in die DDR ein. Er wird von der Stasi unter dem Decknamen "Golgow" geführt. Hermann Kant, langjähriger Präsident des DDR-Schriftstellerverbandes, ist IM "Martin". Paul Wiens, Präsidiumsmitglied des PEN-Zentrums der DDR, ist IM "Dichter". Hans Marquardt, der als Leiter des Reclam Verlags Leipzig Grass' Buch "Das Treffen in Telgte" herausbringt, ist IMBV "Hans".

Alexander Dubcek

Der Fall Grass beginnt für die Stasi am 18. August 1961, fünf Tage nach dem Bau der Berliner Mauer. Zwei Jahre zuvor ist seine "Blechtrommel" erschienen und hat ihm weltweiten Ruhm beschert, er findet international Gehör. Grass kritisiert den Mauerbau und findet Eingang in die Akten des Geheimdienstes, "angefallen wegen Provokation", heißt es dort. Im Sommer 1968 protestiert er laut, als Truppen des Warschauer Pakts in die damalige Tschechoslowakei einmarschieren, um den Versuch des KP-Chefs niederzuschlagen, einen "Sozialismus mit menschlichem Antlitz" zu schaffen.

Furchtbarer Verdacht

Über die Jahre findet die Stasi immer mehr Belege für ihren furchtbaren Verdacht, dass der Dichter eine "feindlich-negative Sicht" auf die DDR und den Sozialismus Moskauer Prägung habe. Grass sucht dennoch immer wieder die Auseinandersetzung mit der DDR, mit Kulturschaffenden wie mit einfachen Bürgern. "Beeindruckt" war Autor Schlüter bei der Durchsicht der Stasi-Akten, "mit welcher Geradlinigkeit Grass seine unabhängige politische Haltung durchhält". So forderte der Schriftsteller 1978 zusammen mit anderen die Freilassung Rudolf Bahros. Der überzeugte DDR-Sozialist hatte in seinem Buch "Die Alternative" die Verhältnisse in seinem Land analysiert und kritisiert und wurde zu acht Jahren Gefängnis verurteilt, als das Buch im Westen erschienen war.

Die Belege zeigen, dass der Schriftsteller es in Kauf nahm, in der DDR lange Zeit keinen Verlag zu finden. 1961 etwa, in der heißen Phase des Kalten Kriegs, war er einer Einladung zum Kongress der DDR-Schriftsteller unter der Bedingung gefolgt, reden zu dürfen. Der damalige DDR-Kultusminister Hans Bentzien glorifizierte die Leistungen seines Landes in der Kultur und fragte rhetorisch, "wer im Westen uns das Wasser reichen" könne. Grass' Wortmeldung dazu wurde ignoriert. Er ging ans Podium, setzte durch, sprechen zu dürfen und legte los. Grass nannte Namen wie Musil und Kafka, deren Werke in der DDR nicht verlegt werden durften und mahnte: "Zeigen Sie Ihren Lesern" diese Werke "und Sie werden merken: Es gibt in Westdeutschland, in Frankreich und in England Schriftsteller, die in der Lage sind, Ihnen das Wasser zu reichen".

Auch am 16. Juni 1978, als Grass vor Ost-Berliner Ärzten aus dem "Butt" las, blieb er sich treu, wie die Stasi-Akten belegen. Der Widerspruch zwischen Staat und gesellschaftlichen Kräften, insbesondere der Jugend, werde in der Bundesrepublik wie in der DDR immer größer, befand er und kritisierte auch den sogenannten Radikalenerlass, der zu Berufsverboten für Beamtem führte, die als Extremisten verdächtigt wurden. Das bessere System aber sei für ihn das der Bundesrepublik.

Grass

Hans Joachim Schädlich

half Oppositionellen wie dem DDR-Schriftsteller , der Ende der siebziger Jahre in die Bundesrepublik übersiedelte. Er machte sich dafür stark, dass der Rowohlt-Verlag ein Buch Schädlichs verlegte - und ließ Schädlich mit Familie vorübergehend in seinem damaligen Haus in Wewelsfleth nahe der Elbmündung wohnen. 1980 platzte den DDR-Oberen der Kragen. Grass erhielt ein Einreiseverbot. Es wurde in den folgenden Jahren jedoch immer mal wieder kurz aufgehoben, wenn der Staatsfeind ein Visum beantragte.


Kai Schlüter: "Günter Grass im Visier - Die Stasi-Akte": Ch. Linksverlag; 384 Seiten, 24,90 Euro

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