Günter Grass in Hannover "Wir befinden uns im Dritten Weltkrieg"

So voll war es zuletzt bei Habermas: In Hannover trafen sich Günter Grass und Oskar Negt zum Intellektuellengipfel - während der Philosoph mahnte, erging der Schriftsteller sich in Gepolter.
Von Oskar Piegsa
Oskar Negt und Günter Grass in Hannover: Unübersehbare Unterschiede im Temperament

Oskar Negt und Günter Grass in Hannover: Unübersehbare Unterschiede im Temperament

Foto: Marcel Wogram

Man muss sich Sisyphos als glücklichen Menschen vorstellen: Er hat immer genug zu tun. Dieser Gedanke stammt weder von dem Sozialphilosophen Oskar Negt noch von dem Literaturnobelpreisträger Günter Grass - doch er zog sich wie ein roter Faden durch des Gespräch der beiden am Montagabend in der Universität Hannover.

Die Veranstalter des Literarischen Salons an der Uni hatten zu der Diskussion eingeladen und hunderte Zuhörer waren gekommen: Schon lange vor dem akademischen Viertel befanden sich mehr Menschen im Hannoveraner Audimax, als Klappsitze zur Verfügung standen. "So voll war es das letzte Mal bei Habermas", sagte eine Zuhörerin. "Das muss in den Neunzigern gewesen sein."

Mit dem berühmten Sisyphos-Zitat von Albert Camus eröffnete der Moderator Stephan Lohr die Diskussion. Er fragte: Ist der Intellektuelle in einer ähnlichen Situation wie die mythologische Figur, die wieder und wieder einen Stein auf einen Hügel rollen muss? Und wenn ja: Macht das wirklich glücklich, wie Camus behauptete, als er die homerische Erzählung in einem seiner Essays gegen den Strich bürstete? "Solange der Stein immer wieder runterrollt, gibt es für mich Momente des Glücks", behauptete Grass. Negt hingegen widersprach: "Ich bin der Auffassung, die Mühe solle sich auch mal lohnen und der Stein oben kleben bleiben."

Damit war - neben unübersehbaren Unterschieden im Temperament - die vielleicht offensichtlichste Differenz der beiden ausgesprochen. Grass: der Künstler, der seine Arbeit als Selbstzweck betrachtet. Negt: der Denker, dessen Engagement in der außerparlamentarischen Opposition und in der alternativen Glockseeschule in Hannover nur Mittel waren, um eine gerechtere Gesellschaft zu schaffen.

"Bei der Volksarmee bedanken"

Ansonsten betonten die beiden aber ihre Gemeinsamkeiten. Ihr Alter, zum Beispiel (Negt ist 80 geworden im Jahr 2014, Grass 87), und ihren Verleger (die letzten Bücher von Günter Grass erschienen im Göttinger Steidl-Verlag, demnächst soll dort eine 19-bändige Werkausgabe von Oskar Negt folgen). Auch ihre politischen Neigungen ähneln sich. "Nach wie vor ist für mich die Idee des Sozialismus unabgegolten", formulierte Negt vorsichtig. Und Grass proklamierte: "Ich bin demokratischer Sozialist, unabhängig vom Verhalten der sozialdemokratischen Partei."

Günter Grass, der Jahrzehnte lang für die SPD Wahlkampf gemacht hatte, ehe er die Partei in den Neunzigern aus Protest über ihre Asylpolitik verließ, warf anderen deutschen Intellektuellen vor, die "Niederungen der Politik" zu meiden. Negt kann er damit nicht gemeint haben, denn auch dieser hat sich durchaus in Niederungen begeben, wenn nicht der Parteipolitik, so doch der Gewerkschaftsarbeit. Dabei lernte er, "wie umständlich und frustrierend es ist, aus einem Arbeiter einen klassenbewussten, kampfbereiten Menschen zu machen", sagte Negt.

Negt mahnte, Grass polterte, auch als es um sein umstrittenes Israel-Gedicht ging. Seine Kritiker hätten sich nicht mit seinem Text auseinandergesetzt, sagte er, der Antisemitismus-Vorwurf sei "wohlfeil". Die Verantwortung der Deutschen für den Völkermord an den Juden werde "auf dem Rücken der Palästinenser ausgetragen", deren "Boden vereinnahmt" und deren "Dörfer plattgemacht" würden von Israel, einem "unkontrollierten Atomstaat, so unkontrolliert wie Pakistan."

Draußen vor dem Audimax flatterten über einer kleinen studentischen Gegendemonstration zwar die Flaggen von Israel und von der Autonomen Antifa, drinnen schien Grass mit seinen Worten jedoch auf Zustimmung zu stoßen. Immer wieder spielten er und Negt sich an diesem Abend die Bälle zu - und ernteten Gesinnungsapplaus.

Grass über die Wiedervereinigung:

"Bis heute hat sich kein führender Politiker bei der Volksarmee bedankt, dass kein Schuss gefallen ist."

Negt über die Wiedervereinigung:

"Der Kapitalismus hätte sich in den Achtzigerjahren nie erträumen lassen, mal einen solchen Legitimationsvorrat vorweisen zu können."

Grass über die Gegenwart:

"Heute befinden wir uns - radikal gesagt - im Dritten Weltkrieg. Schleichend vermehren sich die Kriegsschauplätze."

Negt über die Gegenwart:

"Die Polarisierung von Arm und Reich nimmt zu, es gibt eine wachsende Armee der dauerhaft Überflüssigen."

Grass über die Zukunft:

"Nicht die Rechtsradikalen und nicht der Islam gefährden die Demokratie, sondern der um sich greifende Lobbyismus in Brüssel und hier bei uns."

Negt über die Zukunft:

"Sozialpsychologisch befinden wir uns in einem äußerst labilen Zustand, der explosive Formen annehmen kann."

Nach anderthalb Stunden Diskussion quer durch das 20. Jahrhundert war die Luft im Audimax dick geworden - die Themen wurden dünner. Nach 1945, 1968 und 1989 ging es um 1998. Nach Weltkrieg, Kapitalismus und Revolution wurde nun die Frage erörtert, ob Gerhard Schröder als Kanzler empfänglich gewesen sei für die Anregungen von Intellektuellen. Grass sagte jein, Negt naja.

Kurz vor dem Gesprächsende schlug Negt einen Bogen bis in die früheste Vergangenheit und erzählte von seiner Kindheit auf einem Bauernhof mit fünf älteren Schwestern ("ein absoluter Glücksfall!"). Es war wohl ein Vorgriff auf die Autobiografie, an der er gerade schreibt. Die Arbeit des Intellektuellen hört eben nie auf. Der Sisyphos von Hannover wirkte in diesem Moment erschöpft - aber nicht unglücklich.

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