Sinnsuche in L.A. Die Erde bebt, das Leben ist aus den Fugen

Mauern haben gewackelt, doch zurück bleibt vor allem der Schutt der Erinnerungen - vor denen ist ein junger Österreicher bis ans Pazifikufer geflüchtet. Der Indierock-Held Hans Platzgumer hat einen schlauen Musikerroman geschrieben.
Northridge-Beben 1994: Der Schreck ist größer als die Schäden

Northridge-Beben 1994: Der Schreck ist größer als die Schäden

Foto: Lenny Ignelzi/ ASSOCIATED PRESS

"Mit einem Erdbeben beginnen - und dann langsam steigern" - diese Maxime, die ursprünglich dem Hollywood-Produzenten Samuel Goldwyn zugeschrieben wird, gab Henri Nannen den Reportern des "Stern" mit auf den Weg. Für den hat der österreichische Autor Hans Platzgumer nie geschrieben, aber zumindest den ersten Teil des oft zitierten Spruchs hat er sich zu Herzen genommen.

Das Northridge-Beben rüttelte Los Angeles im Jahre 1994 ordentlich durch. Auf der zwölfstufigen Mercalli-Skala hatte es die Stärke IX. Sein Epizentrum lag im San Fernando Valley, etwa 20 Kilometer nordwestlich von dem Haus in der Yucca Street, in dem der Straßenmusiker Julian Oger untergekommen ist, der Held von Platzgumers Roman "Korridorwelt". Seine deutlich ältere Mitbewohnerin weckt ihn, als die Erde frühmorgens bebt, traumversunken folgt ihr Julian auf die Straße, wo er feststellt, dass er splitternackt ist.

Dieser Einstieg ist so filmtauglich, wie es einer Szene gebührt, die in Hollywood spielt. Und zugleich ist sie natürlich hochsymbolisch: Es geht ums nackte Überleben. Nicht so sehr an dem Januarmorgen - da ist der Schreck schlimmer als die Schäden.

Aber Los Angeles ist für Julian das natürliche Ende seines Weges. Das klassische amerikanische Topos vom Pazifikufer als westlichstem Punkt, als final frontier. Julian Oger hat diesen Weg nach Westen gewählt auf der Flucht vor seiner Heimat Österreich. Die wird, so viel Verbeugung vor Bernhard und Jelinek muss sein, als kalter, bedrückender Ort geschildert, an dem Sprachlosigkeit herrscht - auch über den Tod, den Julians Eltern gemeinsam suchen, als ihr einziger Sohn 16 Jahre alt ist.

Mit dem Rock-Kanon auf die Strandpromenade

In den USA will er das "Leben für den Augenblick" lernen: "Ein Leben ohne gestern, ohne morgen. Ohne das Gewicht Europas, dieses verstaubten, zerfahrenen Todeskontinents, den ich nach wie vor durch die Straßen Hollywoods trage." Doch dieser Ort der reinen Gegenwart, in dem Julian der tragischen Vergangenheit zu entkommen glaubt, er gerät durch das Erdbeben in Schwingungen. Es ist, als käme das Verdrängte Stück für Stück wieder zum Vorschein.

Zu behaupten, dass Hans Platzgumer seinen Roman nach dem Erdbeben zum Einstieg tatsächlich langsam steigere, würde die Wahrheit zugunsten des Bonmots verbiegen. Vielmehr lässt er seinen Julian nach und nach den Schutt der Erinnerungen beiseiteräumen. In Rückblende-Passagen geschieht das, die zunächst wie zufällig eingestreut wirken, sich aber mit der Zeit als geschickte, eindringlich wirksame Erzählkonstruktion erweisen.

Bei einem Autor, der auf einem außerliterarischen Feld Ruhm erlangt hat, ist die Verlockung noch größer als sonst schon, in dem literarischen Werk Spuren des Autobiografischen zu suchen - selbst wenn dieser Ruhm nur für ein überschaubares Spezialistenpublikum bestehen mag, das von Platzgumers Tätigkeit als Musiker (mit Projekten wie Aura Anthropica oder Convertible) und Musikproduzent (Tocotronic) weiß. Zur Zeit der Romanhandlung lebte Hans Platzgumer noch in den USA, war Mitglied der Alternative-Rockband HP Zinker.

Auch Julian Oger ist Musiker, aber ein ganz anderer Typ: Während Hans Platzgumer in seiner Musik stets auf der Suche nach Neuem war, begnügt sich Julian Oger mit dem Immergleichen, mit Coverversionen von maximal kanonisierten Rock-Klassikern, von den Doors, den Beatles oder Neil Young, die er auf der Strandpromenade von Santa Monica für Kleingeld spielt.

Was Julian von HP Zinker gehalten hätte? Er lernt ein Mädchen kennen, "sie mochte Grunge, Girl Bands, Noise Bands, Sub Pop Records, SST" - all das, was US-Indie-Coolness in den frühen Neunzigern ausmachte, wie Platzgumer weiß. Und Oger: "Ich vermisste in ihnen jene Genialität, die ich bei den Bands und Songwritern der sechziger und siebziger Jahre spürte."

Neben solchen kenntnisreich augenzwinkernden Passagen über Musik mischt Hans Platzgumer auch weiteren Sachmehrwert in das soul searching seines vom Schicksal geschlagenen Helden. So gibt es absolut brauchbare Gedanken zur Stadtentwicklung von Los Angeles, speziell in dem Yucca Corridor genannten Viertel, von dem sich der Buchtitel ableitet. Dort nutzten die lokalen Behörden die durch das Erdbeben verursachten Zerstörungen zum Aufräumen auch im sozialen Sinne; Verdrängung unter anderem von illegal eingewanderten Latinos im Zeichen von Kriminalitätsbekämpfung und Aufhübschung für den Tourismus.

Vor "Korridorwelt" veröffentlichte Platzgumer schon mehrere Romane für österreichische Verlage, deren jüngster, "Der Elefantenfuß", von der Reaktor-Katastrophe in Tschernobyl handelte. Am Erscheinungstag des Buches wurde das Atomkraftwerk von Fukushima zerstört, was dem "Elefantenfuß" große Aufmerksamkeit bescherte. Bleibt zu hoffen, dass "Korridorwelt" auch ohne ein neues Erdbeben das Publikum findet, das der Roman zweifelsohne verdient hat.

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