Amerika-Panorama Wann kommt das Ufo, das uns alle rettet?

Orchester im Kopf, Sternenschiffe am Himmel: Hari Kunzru liefert mit "Götter ohne Menschen" einen suggestiven Roman über Selbstverlust und Selbstfindung.
Ufo über der kalifornischen Mojave-Wüste (Montage)

Ufo über der kalifornischen Mojave-Wüste (Montage)

Foto: iStockphoto/ Getty Images

Bei guten Romanen erscheinen uns während des Lesens Bilder vor Augen, bei großartigen Romanen gesellen sich ganz von selbst noch Geräusche, Stimmen und Gesänge dazu. So wie bei der Lektüre von Hari Kunzrus Americana-Panorama "Götter ohne Menschen": Da glauben wir ab einem bestimmten Zeitpunkt zu hören, wie ein vielköpfiges Ensemble die unglaublichste Musik darbietet.

Grundton dieses Kopf-Orchesters ist ein elektronisches Brummen, das so klingt wie die Landegeräusche von Ufos in alten Science-Fiction-Filmen. Darüber legt sich, so meinen wir zu vernehmen, ein Trommelteppich, erzeugt von Schlaggerät aller Art. Und über allem erklingen schließlich Choräle ätherischer Stimmen, die beseelt sind vom Glauben an ein Leben auf fernen Sternen. Ein Fest der Rhythmen und der Gesänge irgendwo zwischen Krautrock, Freejazz und Schamanenbeschwörung.

Begegnung mit der göttlichen Welt

Vielleicht sind wir bei der imaginierten Musik aber auch ein wenig zu wohlmeinend mit den Fertigkeiten der Menschen, die sich in Kunzrus Roman dieser eigenwilligen Musikausübung hingeben. Es handelt sich dabei um einen Haufen krimineller, zugedröhnter Hippies, die Ende der Sechzigerjahre auf einer markanten Felsformation in der Mojave-Wüste ritualartige Sessions veranstalten, um Boten von anderen Sternen willkommen zu heißen. Diese Aliens umkreisen angeblich unseren Planeten, um die erleuchteten Teile der Menschheit beim anstehenden Weltuntergang auf ihren Raumschiffen zu retten und in ferne Galaxien zu eskortieren.

Das Ashtar Galactic Command, wie sich das Ensemble aus ungewaschenen Sternenbeschwörern nennt, ist nur eine von vielen Gruppen von Menschen, die sich unter dem Himmelsfirmament in der kalifornischen Weite versammelt, um der eigenen Weltverlorenheit gewahr zu werden. Eigentlich denken Kunzrus Figuren alle irgendwie: Wann kommt endlich das Ufo, das uns alle rettet?

Dieser große Amerika-Roman spannt sich über mehr als drei Jahrhunderte und seine Figuren gehören etlichen unterschiedlichen Ethnien an, darunter: spanische Missionare, indigene Krieger, irakische Flüchtlinge. Sie alle landen irgendwann an der Gesteinsformation, deren Felsen wie Antennen zum Empfang einer anderen Welt in den Mojave-Himmel ragen. Für sie wird die Wüste zum Raum für echte und fantasierte Begegnungen mit einer anderen, einer göttlichen Welt.

Der große Rock'n'Roll-Schwindel

Es ist kein Zufall, dass wir von einem abgehalfterten englischen Rockstar in Kunzrus Panoptikum der Grenzgänger eingeführt werden. Kunzru wurde vor drei Jahren mit seinem Roman "White Tears" berühmt; der handelte von abgebrühten, ironischen, weißen Hipstern, die sich in den Wonnen des Weltlichen suhlten, aber in uralten Tonaufnahmen schwarzer Musiker das Göttliche suchten.

Ein bisschen geht es so auch dem britischen Sänger, der in "Götter ohne Menschen" mit seiner Band nach Kalifornien kommt, um dort ein Americana-Album einzuspielen, aber irgendwie doch keine Inspiration findet. Alles scheint schon mal dagewesen zu sein, das ganze Authentizitätsgeheische fühlt sich verlogen an. Der große Rock'n'Roll-Schwindel eben.

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[Kunzru, Hari]

Götter ohne Menschen: Roman

Aus dem Englischen übersetzt von: Nicolai von Schweder-Schreiner
Verlag: Liebeskind
Seitenzahl: 432
Für 24,00 € kaufen

Preisabfragezeitpunkt

30.05.2023 11.12 Uhr

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In englischsprachigen Raum erschien "Götter ohne Menschen" bereits 2011, große Teile spielen 2008. Es war die Zeit, als US-Künstler wie die Folk-Schamanen Fleet Foxes mit der Hinwendung zu alter, von der Natur beseelter Musik berühmt wurden - und britische Bands wie Mumford & Sons ihnen nacheiferten, um noch viel berühmter zu werden. Das mag ein sehr spezieller Augenblick der Pop-Historie gewesen sein, aber der Ausverkauf des Spirituellen, der sich damals vollzog, ist ein Einstiegsszenario, das man auch heute ohne tiefere Kenntnis der Materie nachvollziehen kann.

Missionen ins Unbekannte

Urkomisch, wie der dekadente britische Popstar da in Röhrenjeans durch die Kakteen der Mojave-Wüste stolpert - Fremdkörper in einer Welt, die er in seinen Songs idealisiert hat. Es ist der Auftakt für eine ganze Reihe von Missionen ins verheißungsvolle Unbekannte: vom spanischen Missionar, dem im 18. Jahrhundert an den Felsen ein Engel erscheint, über den versoffenen Flugzeugtechniker, der nach dem Krieg dort einen Landeplatz für Ufos erkennt, bis zum indischen Software-Entwickler von der Wall Street, dessen autistisches Kind an diesem mythische überhöhtem Ort spurlos verschwindet.

Dabei gelingt es Kunzru, der als Sohn eines Inders und einer Britin in Großbritannien aufgewachsen ist und nun in New York lebt, das Erweckungsanekdotische und das Sinnsuchegestrampel seiner Figuren in einen größeren Zusammenhang zu stellen. Die Wüste ist hier der Ort, wo sich die Säkularisierten, Entwurzelten und Geflohenen eine neue Welt zusammenbauen.

Besonders krass ist dieses Künstliche vor dem Hintergrund der unbezwingbaren Mojave-Ewigkeit in dem Teil, der in einem Lager irakischer Geflüchteter spielt. Die leben in einem Areal, das der US-Army zugleich als Übungscamp und Kulissenstadt für den nächsten Irak-Einsatz dient. Die Iraker müssen Gotteskrieger und Gewaltopfer spielen, auf dass ihnen später die Aufenthaltserlaubnis für die USA erteilt werde.

Im Gegensatz zu den zugedröhnten Hippies des Ashtar Galactic Command, können die nüchternen Iraker nicht darauf hoffen, von Sternenmächten in ferne Galaxien gerettet zu werden. Die kläglich zusammengezimmerte Kulissenstadt im Nirgendwo der amerikanischen Wüste ist bereits ihr Sehnsuchtsort.

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