
Neuer Hegemann-Roman: Geballte Kaputtheit
Neuer Roman von Helene Hegemann Jagd auf die Society-Gazellen
Es lässt sich genau sagen, in welchem Moment Helene Hegemann selbst erkannt haben dürfte, dass sie die Kontrolle über ihr neues, zweites Buch "Jage zwei Tiger" verloren hat. "Es ist an dieser Stelle fast unnötig zu erwähnen, dass Cecile zu den weniger durchgeballerten Charakteren in diesem Roman gehört", schreibt sie und beendet den Absatz mit einem Seufzer womöglich ironisch gebrochener, aber doch deutlich wahrnehmbarer leiser Verzweiflung: "Und ja, scheiße, apropos Roman."
"Jage zwei Tiger" ist nicht irgendein Buch. Schon der Titel trägt den Willen zur großen Geste mit sich. "Der Jäger, der zwei Hasen jagt, verfehlt beide. Wenn du schon scheitern musst, scheitere glanzvoll: Jage zwei Tiger!" zitiert Hegemann in einem dem Roman vorangestellten Songtextauszug die slowenische Konzeptrockband Laibach.
Mit "Axolotl Roadkill" war die Schriftstellerin kurz vor ihrem 18. Geburtstag Anfang 2010 zum kurze Zeit alle Feuilletondebatten beherrschenden Phänomen geworden - und zur Bestsellerautorin. Die öffentliche Aufregung entzündete sich am Umstand, dass die Debütantin einige Stellen bei dem Berliner Blogger Airen abgeschrieben hatte. Sie wäre wohl um einiges geringer ausgefallen, wenn es sich bei Helene Hegemann nicht um die Tochter des bekannten Volksbühnen-Dramaturgen Carl Hegemann handeln würde und sie in ihrem Buch nicht mit den Reizthemen jugendliche Sexualität und Verzweiflung jongliert hätte.
Solo auf der Sprachgitarre
Die Themen sind ähnlich in "Jage zwei Tiger". Die Verfasserin beschränkt sich - anders als im Titel gefordert - keineswegs auf die Großwildjagd, sondern versucht eine ganze Herde von Wesen zu erhaschen, die man zoologisch-soziologisch wohl als Society-Gazellen und Depressions-Bunnies bezeichnen könnte. Immerhin wird auch ein alternder Salonlöwe zur Strecke gebracht.
"Jage zwei Tiger" spielt größtenteils im Milieu der Wohlstandsverwahrlosten, zum Teil sogar Superreichen mit dysfunktionalem Familienleben: Hier sitzt man im grauen Armanihemd am Krankenbett, kommt im 3400-Euro-Lammlederkleid nach Hause, um sich widerwillig auf sein Kind besinnen zu müssen, steht in Kaschmirjacke am Check-in eines südeuropäischen Flughafens, während der eigenen, minderjährigen Tochter unerwartet ein älterer - wie Hegemann schreibt - "Folklorekapitalist" auf die Schulter klopft. Mit dem hatte das Mädchen in der Nacht zuvor Sex.
Diese Szenen sind unterhaltsam, und als Society-Reporterin wäre Helene Hegemann eine Bereicherung des deutschen Journalismus. Sprachmächtig ist sie allemal. Ihr Buch ist keines dieser blutleeren Werke der Nachwuchsschriftstellerinnen vom Leipziger Literaturinstitut, der zentralen deutschen Kaderschmiede literarischen Mittelmaßes. Doch "Jage zwei Tiger" liest sich wie ein überlanges Solo auf der Sprachgitarre.
"Tschick" auf Speed
Dialoge und Figuren wirken allzu häufig irgendwie lustig, irgendwie schrill, aber immer auch bemüht vielsagend: "Was musstest du mich denn fragen?", sagt der Vater zum jugendlichen Sohn. "Was eine Städtepartnerschaft ist", sagt der Sohn zum Vater. Das wirkt absurd, ist aber auch ziemlich gekünstelt.
"Ehrlich. Kai, du bist mein Sohn und du bist weit unter 18, und es tut mir leid, aber ich werde dich hier keinesfalls wie ein auf Rücksichtnahme angewiesenes Kindergartenkind behandeln", sagt der gleiche Vater an anderer Stelle zum gleichen Sohn, und es folgt ein im gleichen Stil weitergehender Monolog von fast einer ganzen Buchseite, den man sich hervorragend auf der Bühne eines bundesdeutschen Stadttheaters deklamiert vorstellen kann, aber kaum in der Realität.
Die Figuren von "Jage zwei Tiger" mögen krasse Typen sein, die sich allesamt den Satz "No beauty without the wound" zu eigen machen könnten, der in einer Szene des Buchs über dem Schreibtisch des Zirkusmädchens Samantha baumelt (ja, auch Zirkusmädchen treten auf - aber seit wann haben Zirkusmädchen Schreibtische?). In ihrer geballten Kaputtheit aber wirken die Hauptfiguren derart austauschbar, dass es auf Dauer schwierig ist, die Übersicht zu bewahren über die verschiedenen Erzählstränge des Buchs.
Am Ende bündeln sie sich in einer Ausbruchsgeschichte, die ein wenig an Wolfgang Herrndorfs "Tschick" erinnert, neben "Axolotl Roadkill" der andere große literarische Bestseller unter den Adoleszenzromanen dieses Jahrzehnts. Nur, dass das Finale von "Jage zwei Tiger" eher eine Art "Tschick" auf Speed ist - und nach der Weitschweifigkeit der Vorgängerkapitel wie eine notdürftig gezimmerte Schlusspointe wirkt.
So bleibt zuletzt nur, an Helene Hegemanns fruchtlos gebliebene Selbstermahnung zu erinnern: "Und ja, scheiße, apropos Roman." Der Satz steht auf Seite 94, es folgen über 200 weitere Seiten - und auf fast jeder ist man versucht, in den Seufzer der Verfasserin einzustimmen. "Jage zwei Tiger" besteht aus einem Übermaß an Einzelszenen und vielen gelungenen Formulierungen. Doch das allein ergibt keinen guten Roman.
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