
Helmut Dietl Memorien: Münchner Geschichten
Helmut Dietls Memoiren Münchner Geschichten
"Kir Royal"? "Monaco Franze"? Oder doch "Schtonk"? Unmöglich zu sagen, welcher Dietl-Film, welche Dietl-Serie am besten ist, denn eigentlich gilt doch folgendes: Die Qualität der Dietl-Arbeiten war stets ähnlich.
Kaum jemand sonst schuf im deutschen Fernsehen Charaktere von einer solchen Tiefe, von einer solchen Glaubwürdigkeit. Und keiner zeichnete die verschiedenen Teile der Münchner, später der bundesdeutschen Gesellschaft so zärtlich nach wie er und erzählte dabei so wunderbare Geschichten. Es ging einem der bedeutendsten deutschen Regisseure der Nachkriegszeit nicht darum, die Wirklichkeit zu schildern. Für ihn war das große Ganze wichtig: die Wahrheit. Er war überzeugt davon, diese in seinen Arbeiten abzubilden.
"A bissel was geht immer" heißt nun also seine Autobiografie. Das führt ein wenig in die Irre, lautete so doch der Titel der ersten Folge von Dietls Serie "Monaco Franze". Die wiederum kommt im Buch überhaupt nicht vor, sie fällt in den langen Zeitraum, der nicht abgedeckt wird.
Dietl schreibt vor allem über seine Kindheit und Jugend sowie die jungen Erwachsenenjahre; in den letzten Kapiteln von der Zeit, in der er an "Kir Royal" arbeitete, der Fernsehserie, die nicht die Wirklichkeit, wohl aber die Wahrheit der oberen Zehntausend der Achtzigerjahre erzählte. Der Grund für die doch recht große Lücke: Als er am 8. Oktober 2013 die Diagnose der Krebserkrankung bekam, an der er im März 2015 starb, hörte er auf zu schreiben - und fing erst Monate später nach einem Treffen mit Patrick Süskind wieder an.
Formal gesehen mag das Buch den Gesetzen der klassischen Autobiografie folgen. Dietl beginnt mit der frühen Kindheit in der Münchner Vorstadt, erzählt vom alkoholkranken Vater, der nie da war, von den beiden Großmüttern. Er erinnert erste kleine Lügen und erste große Lieben, seine kurze Karriere als Kinderstar beim Film, vergiftete Weihnachtsgeschenke und Doktorspiele mit den Nachbarskindern.
Dabei besitzt er ein ungeheuer gutes Auge für Details. Vielleicht liegt's daran, dass er so lange als Regisseur arbeitete: Meistens liefert er die Kulisse für seine Erzählungen gleich mit, und das ist wunderbar: Sogar wenn Dietl über teppichklopfende Hausfrauen im Innenhof einer Mietskaserne oder die Düfte der österreichischen Küche schreibt, bleibt man gerne dabei.
Wenn es eine Konstante im Leben der Dietls gibt, ist es der Wechsel
Dietl bildet Nachkriegsbayern ab, erzählt nicht nur von seinem Heranwachsen, sondern auch von dessen Begleitumständen und dem ihn umgebenden Personal. Was für ein schönes Ensemble das schon am Anfang ist!
Wir lesen nicht nur von der Verwandtschaft, sondern auch von Ruth Abendschön, der so italienisch aussehenden Tochter des Generaldirektors, in dessen Gesindehäuschen die Familie Anfang der Fünfzigerjahre zog. Wir lernen Herrn Gerwald kennen, den früheren Sinfoniker (dass das alleine kein Qualitätsmerkmal für einen Geiger ist, ahnt sogar der junge Helmut schon), der "prügelt, kotzt und kopuliert" und der nächste Vermieter ist.
Wenn es eine Konstante im Leben der Dietls gibt, ist es der Wechsel. Sechs verschiedene Schulen besucht Helmut Dietl, ebenso oft zieht er als Heranwachsender um, die finanzielle Situation der Mutter ist stets prekär. Die Liebe zu ihr ist neben der Liebe zu den Frauen eine der Konstanten seines Lebens. Beide Arten wurden selten so hinreißend, so humor-, aber auch so respektvoll geschildert wie in diesen Buch.
Die Methodik, die Dietl in "A bissel was geht immer" anwendet, kennen wir aus seinen Serien und Filmen. Er zoomt auf eine Gegebenheit. Und dann geht er mit der Kamera, die hier ein Stift oder das Textverarbeitungsprogramm seines Computer ist, zwei, drei, vier Schritte zurück.
Er verhandelt die Milieus, in denen er sich bewegt, aber auch die großen Themenkomplexe, über die seinerzeit geschwiegen wurde. Natürlich das Dritte Reich, das längst vorbei sein mag, aber wie ein giftiger Mief über Teilen der Gesellschaft hängt. Verschiedene Varianten der Sexualität, die in Bayern erstaunlich progressiv ausgelebt wird.
Und Fäkalien; ja, es gibt eine Stelle, in der recht genau geschildert wird, wie sich der kleine Helmut in die Hosen macht. Über 60 Jahre später schien es ihm Freude zu bereiten, über dieses Tabu zu schreiben. Er macht das so zärtlich, dass man als Leser schmunzeln muss, wie auch, wenn er über die Mädchen seiner Schulzeit schreibt: "Biggi aus Waakirchen, die in meine Klasse ging, hatte rötlich-blonde Haare und einen großen Busen. Ilse aus Saarbrücken, die im Schülerheim ein Stockwerk unter mir schlief, hatte braune Haare, roch zwar immer ein bisschen nach Schweiß, war aber figürlich ebenfalls, für ihr Alter von 14 Jahren, sehr weit entwickelt und sexuell ausgesprochen neugierig."
Er erzählt nicht nur eine Geschichte, er erzählt viele, man könnte eine Serie daraus machen
Auf den folgenden Seiten werden wir Zeuge davon, wie Dietl erwachsen wird: Kunstabitur über Munchs "Der Schrei". Zaghafte Schritte im Münchner Nachtleben, die bald in "Lilo's Leierkasten" führen, in dem auch Andreas Baader und Johannes von Thurn und Taxis verkehren. Hier werden die Schritte routiniert. Die Ableistung der Wehrpflicht bei den "grundsätzlich eher dem eigenen Geschlecht zugeneigten" Fallschirmjägern, die für den Feingeist, der bereits mit Verlegern und Schauspielerinnen befreundet ist, zur Qual wird.
Und dann ist da noch seine literarischen Ambition. Dem Insel-Verlag hatte Dietl eine Auswahl seiner Gedichte geschickt, die Antwort ereilte ihn während einer Wien-Urlaubsreise und war vernichtend, ein Suizid angedacht. Doch im nächsten Café wartete Louise, mit der endlich der erste Geschlechtsverkehr stattfinden wird. Und schließlich erleben wir seine ersten Schritte im Filmgeschäft - ohne jede Erfahrung beginnt er als Assistent beim Bayerischen Rundfunk. Nein, an Stoff mangelt es Dietl nicht. Er erzählt nicht nur eine Geschichte, er erzählt viele, man könnte eine Fernsehserie daraus machen.
Das Buch endet mit einem Fragment. 1983, über den Wolken, in der Business Class eines Jets auf der Reise von Deutschland nach Los Angeles. Das Interessante: Wenn man diese Zeilen liest und von Alkohol und Zigaretten an Bord eines Überseefluges, hat man unweigerlich nicht Dietl, sondern Franz Xaver Kroetz in seiner Rolle als Baby Schimmerlos vor Augen.
Die Heiterkeit macht einer Rat- und Rastlosigkeit Platz
Wo der erste Teil im weitesten Sinne heitere Coming-of-Age-Geschichten erzählt, auch wenn das Personal teilweise schon aus der Unterhaltungsindustrie stammt - wir lesen von Elfie Pertramer und Walter Sedlmayr und von Towje Kleiner, der später die Hauptrolle in, jetzt sagen wir es doch, der wohl besten Dietl-Serie "Der ganz normale Wahnsinn" spielte -, wechselt der Sound hier. Vielleicht liegt es daran, dass die 30, 40 Seiten nur Skizzen sind. Vielleicht daran, dass aus einer anderen Zeit berichtet wird, einer, in der Dietl mit "Kir Royal", seiner bis dahin wichtigsten Fernseharbeit, haderte.
Womöglich spielt auch die Tatsache eine Rolle, dass diese Kapitel nach der Krebsdiagnose Dietls entstanden. Auf jeden Fall macht die Heiterkeit einer Rat-, oft auch einer Rastlosigkeit Platz, die mit dem Hollywood der Achtzigerjahre, mit schwulen Masseuren, die eigentlich Schauspieler sind, und Partys am Mulholland Drive eine perfekte Kulisse findet. Höhepunkt ist eine Begegnung mit dem dauerderangierten Helmut Berger im Hotel Chateau Marmont , der kurze Zeit für die Hauptrolle von "Kir Royal" im Gespräch war.
"A bissel was geht immer" endet recht unvermittelt. Der herbe Schluss wird aber aufgefangen, einmal vom Vorwort, das von Dietls letzter Ehefrau Tamara stammt, und schließlich von der Nachbetrachtung Patrick Süskinds, dem engen Freund Dietls, der vielfach mit ihm zusammenarbeitete. Beide vervollständigen die offenen Enden, die dieses Buch naturgemäß besitzt.
Die zentrale Botschaft stammt dabei von Helmut Dietl selbst. An einem Sommerabend auf der Dachterrasse über den Dächern Münchens liest er seiner Frau aus den bisherigen Aufzeichnungen vor. "Du bist ein Schriftsteller geworden durch die Arbeit an diesem Buch", sagt sie ihm. "Bin ich nicht geworden, Liebling, war ich schon immer", erwiderte er. "Ich war immer ein Autor. Regisseur bin ich nur deshalb geworden, weil es niemanden gab, der meine Drehbücher genauso gut inszenieren hätte können wie ich selbst."

Helmut Dietl:
A bissel was geht immer
Unvollendete Erinnerungen
Kiepenheuer & Witsch; 352 Seiten; 22,99 Euro.
Buch bei Amazon: "A bissel was geht immer" von Helmut Dietl Buch bei Thalia: "A bissel was geht immer" von Helmut Dietl