Henning Mankell im Interview "Afrika braucht die Frauen!"

Aids raubt jedes Jahr Millionen afrikanischer Kinder die Eltern. Der Autor Henning Mankell versucht, die Erinnerung an die Toten zu retten. Im Interview erklärt er das Konzept der "Memory Books" und plädiert für die Emanzipation der afrikanischen Frauen.

SPIEGEL ONLINE: Herr Mankell, seit den achtziger Jahren haben Sie Ihre Wirkungsstätte immer mehr nach Mosambik verlegt. In Maputo haben Sie ein eigenes Theater gegründet. Woher kommt die Liebe für den schwarzen Kontinent?

Mankell: Als junger Mann wollte ich etwas von der Welt sehen. Ich habe Schweden verlassen und begonnen zu reisen. Als ich in Afrika aus dem Flugzeug stieg, fühlte ich mich dort sofort zu Hause. Ich habe dafür keine Erklärung. Ich war noch nie zuvor auf diesem Kontinent und hatte auch keine Familie oder Bekannte dort. Trotzdem war es ein Gefühl von Heimat, und das ist bis heute geblieben. Außerdem hält mich meine Arbeit am Teatro Avenida in Maputo. Es ist das einzige Theater in Mosambik und inzwischen sehr bekannt. Die Menschen in Afrika lieben das Theater, es ist eine gute Möglichkeit, sie zu erreichen.

SPIEGEL ONLINE: In den letzten Jahren haben Sie sich verstärkt dem Kampf gegen Armut und Aids verschrieben. Im Jahr 2010 werden bis zu 40 Millionen Kinder ihre Eltern wegen der Krankheit verloren haben, ein Großteil von ihnen in Afrika. Was können wir gegen diese Entwicklung tun?

Mankell: Zunächst müssen wir den Analphabetismus bekämpfen. Wie soll sich jemand über Aids informieren, wenn er nicht lesen und schreiben kann? Der nötige Unterricht würde nicht mehr kosten, als in Europa jährlich für Hunde- und Katzenfutter ausgegeben wird. Wichtig ist aber auch die Emanzipation der Frauen. Sie sind es, die in Afrika das tägliche Leben organisieren und die größte Verantwortung für den Zusammenhalt der Familie tragen. Aber politisch haben sie nichts zu sagen, und sie wissen meist auch nicht, wie sie sich vor Aids schützen können. Ich frage mich wo die Feministinnen sind, um die Frauen dort zu unterstützen. Afrika braucht die Frauen, in ihnen liegt die Zukunft.

SPIEGEL ONLINE: In Uganda unterstützen Sie ein außergewöhnliches Projekt für Aids-Waisen.

Mankell: Es gibt so viele verwaiste Kinder in Afrika, die nichts über ihre Eltern wissen. Die nichts von der Krankheit wissen, die ihre Eltern umgebracht hat. Das "Memory Book"-Projekt , das ich in meinem Buch "Ich sterbe, aber die Erinnerung lebt" beschreibe, unterstützt Aids-Kranke dabei, Erinnerungsbücher für ihre Kinder zu verfassen. Es geht darum, den Kindern eine Idee zu vermitteln, wer sie sind, von wem sie abstammen. Durch diese Bücher haben sie etwas, woran sie sich halten können, wenn ihre Eltern tot sind.

SPIEGEL ONLINE: Wie kommen die Bücher zustande - in einem Land, in dem es so viele Analphabeten gibt?

Mankell: Anfangs habe ich mich das auch gefragt. Aber die Menschen haben die verschiedensten Wege gefunden, um sich mitzuteilen. Sie kleben Sand in die Bücher oder machen kleine Zeichnungen. Für die Kinder werden diese Bücher dann später zu ihrem wertvollsten Besitz. Einmal habe ich in einem Dorf ein kleines Mädchen getroffen. Sie hieß Aida - nur ein Buchstabe trennte sie von Aids. Sie folgte mir einige Zeit und streckte mir schließlich ein kleingefaltetes Stück Papier hin. Sie wollte unbedingt, dass ich es mir anschaue. Als ich das Papier aufklappte, sah ich darin einen toten blauen Schmetterling. Aida sagte zu mir: "Meine Mutter liebte blaue Schmetterlinge."

SPIEGEL ONLINE: Wie ist es für die kranken Eltern, solche Bücher zu verfassen?

Mankell: Für die meisten ist es sehr schwer, mit dem Schreiben oder Gestalten der Bücher zu beginnen. Das eigene Leben und die eigene Familiengeschichte auf Papier festzuhalten bedeutet ja auch, sich einzugestehen, dass man an der Krankheit sterben wird. Das ist ein grausamer Prozess. Manche Mütter und Väter verfassen für jedes ihrer Kinder ein Buch, andere scheitern schon am ersten. Aber in jedem Fall sind die Bücher von unschätzbarem Wert, denn sie geben weiter, was sonst niemand dokumentiert hätte.

SPIEGEL ONLINE: Wie gehen Sie selbst mit all den Erfahrungen und Erlebnissen um, die Sie auf ihrer Reise durch Uganda gemacht haben?

Mankell: Es gibt Bilder und Begegnungen, die ich nie vergessen werde. Ich wache auch oft mitten in der Nacht auf und denke an all die Probleme, die wir lösen sollten. Das Schlimmste ist: Viele von ihnen hätten wir schon längst lösen können. Diese Gedanken rauben mir den Schlaf. Ich will nicht in einer Welt leben, in der kleine Kinder an Masern sterben, weil Medikamente für sie unbezahlbar sind. Das ist doch furchtbar; im Jahr 2006 sollte kein kleines Kind mehr an Masern sterben müssen!

SPIEGEL ONLINE: Können wir von Afrika auch etwas lernen?

Mankell: Auf jeden Fall. Zum Beispiel, dass in der Armut immer auch Reichtum zu finden ist. Oder den starken Bezug, den die Menschen in Afrika zu ihrer Geschichte haben, und die hohe Achtung vor den Verstorbenen. Ich selbst wurde in Afrika ein besserer Europäer. Egal wie lange ich dort leben werde, so bleibe ich doch Europäer, hier sind meine Wurzeln. Aber durch die Entfernung kann ich Europa aus einem anderen Blickwinkel sehen. Außerdem habe ich gelernt, mehr zuzuhören. Ein afrikanisches Sprichwort sagt: Du hast zwei Ohren und nur einen Mund - und das hat einen guten Grund.

Das Interview führte Anne Backhaus

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