Herfried Münkler »Ich fürchte, ich war über die meiste Zeit ein Corona-Gewinnler«

Ein Fragebogen von Max Dax
Fehlt Deutschland ein intellektueller Kompass? Was würde er als Kanzler sofort ändern? Und: Kann man zu Coronazeiten auf dem Vulkan tanzen? Antworten des Schriftstellers Herfried Münkler.
Würde Machiavelli heute in der Politik überleben, Herr Münkler (Archivbild)

Würde Machiavelli heute in der Politik überleben, Herr Münkler (Archivbild)

Foto: Christoph Hardt / Future Image / IMAGO

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SPIEGEL: Sind Sie gerne Zeitzeuge im 21. Jahrhundert?

Münkler: Wenn neue Antworten auf alte Fragen erforderlich werden, ist das jedenfalls intellektuell herausfordernd. Und zugleich ist es den Deutschen materiell und in puncto Sicherheit des Lebens nie besser gegangen als jetzt. Da ist man doch gern dabei.

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Jürgen Heinrich / IMAGO

Herfried Münkler, Jahrgang 1951, lehrte bis zu seiner Emeritierung 2018 Politische Theorie und Ideengeschichte an der Humboldt-Universität in Berlin. Er schrieb zahlreiche Bestseller, etwa 2002 »Die neuen Kriege« und zusammen mit seiner Ehefrau Marina Münkler 2019 »Abschied vom Abstieg. Eine Agenda für Deutschland«. 2021 erschien »Marx, Wagner, Nietzsche: Welt im Umbruch«. Münkler ist Gesprächspartner und Ratgeber führender deutscher Politikerinnen und Politiker.

SPIEGEL: Was war toll an den Zwanzigerjahren des 20. Jahrhunderts in Berlin?

Münkler: Die kenne ich nur aus der Literatur und einigen Filmen. Mein Vater war Jahrgang 1923 und hat sich als Inflationsjahrgang bezeichnet. Dem exzessiven Genuss des Lebens in den großen Städten korrespondierte am Anfang und Ende der Zwanzigerjahre Not und Elend, Unsicherheit und Ungewissheit. Vieles von dem, was wir uns heute als wild und ausgelassen vorstellen, war wohl eher Betäubung angesichts einer bitteren Realität.

SPIEGEL: Spüren Sie Parallelen zwischen damals und heute?

Münkler: Nein. Ich bin zu alt, um an der wiederauflebenden Klub- und Partykultur partizipieren zu wollen. Ansonsten war Selbstberauschung meine Sache noch nie. Und vor allem hat der Lockdown in mein wesentlich am Schreibtisch stattfindendes Leben nicht so tief eingegriffen, wie er das bei vielen anderen wohl getan hat. Das sind die wesentlichen Gründe meiner Parallelenignoranz.

SPIEGEL: Wird sich Geschichte wiederholen?

Münkler: Geschichte wiederholt sich nie. Aber es gibt gewissen Ähnlichkeiten ihres Verlaufs. Die interessanteren darunter sind nicht die, die auf der Hand liegen, sondern die, denen man nachspüren muss, um sie aufzufinden.

»Das Corona-Regime war für die meisten Menschen selbst verordnet.«

SPIEGEL: Kann man zu Coronazeiten auf dem Vulkan tanzen?

Münkler: Schwerlich, weil alles Vulkanische ja abgeschaltet war.

SPIEGEL: Was haben Sie während der/des Lockdowns gemacht?

Münkler: Am Schreibtisch gesessen und gearbeitet, gelesen, Notizen gemacht, am Buch geschrieben. Und dabei von der verordneten Ruhe und Eingeschränktheit profitiert. Ich fürchte, ich war über die meiste Zeit ein Corona-Gewinnler. Vermutlich nicht einmal der Einzige. Aber ich gebe es immerhin zu.

SPIEGEL: Leben wir in einem Corona-Regime?

Münkler: Zweifellos – von der Maske, die man in vielen Räumen tragen muss, bis zum Handy, das wegen des Impfzertifikats mitzuführen ist. Dabei ist indes festzuhalten, dass gemäß internationalen Vergleichsstudien die Verhaltensänderung der meisten Menschen bereits einsetzte, bevor der Staat Maßnahmen zur Pandemie-Eindämmung ergriff. Das Corona-Regime war für die meisten Menschen selbst verordnet. Die staatlichen Maßnahmen waren eher Leitplanken der Orientierung.

SPIEGEL: Steckt in der Coronakrise auch eine Chance?

Münkler: In jeder Krise stecken Chancen: einige, die sich von selbst aufdrängen, wie beschleunigte Digitalisierung oder auch Stärkung des Vorsorgestaates (Masken, Sauerstoff, Kapazitäten zur Produktion von Impfstoffen), andere, über die man nachdenken muss (mehr Homeoffice, dadurch Entlastung des großstädtischen Wohnungsmarkts) und schließlich die, die wir erst noch finden müssen.

SPIEGEL: Werden wir eine Zeit nach Corona erleben, in der wir die Bürgerrechte wiederbekommen?

Münkler: Sicherlich, wir sind ja augenblicklich in einer Phase des Wiederauflebens zeitweilig suspendierter Bürgerrechte bzw. solcher, die wir selbst aus Sicherheitsgründen nicht in Anspruch genommen haben. Aber wir werden im 21. Jahrhundert mit weiteren Pandemien rechnen müssen – entgegen der Bezeichnung »Jahrhundertpandemie«, die suggeriert, dass wir in diesem Jahrhundert nicht mehr mit einem solchen Ereignis rechnen müssen. Im Gegenteil: Wir sollten uns darauf vorbereiten, um die Fehler, die zuletzt begangen wurden, nicht zu wiederholen.

»Das Agieren einiger sächsischer Gerichte bei der Entfernung von Plakaten, deren Botschaft sich als Mordaufruf verstehen ließ, ist das Gegenteil einer wehrhaften Demokratie.«

SPIEGEL: Welche drei Dinge würden Sie sofort ändern, wenn Sie Bundeskanzler wären?

Münkler: Sie überschätzen die Macht des Kanzlers; allein kann der oder die gar nichts ändern. Aber wenn doch: aktuell eine striktere und entschlossenere Impfpolitik mit stärkerem Verpflichtungscharakter, denn nur so kommen wir zügig aus dem Corona-Regime heraus, dazu allgemein eine schnellere Umsetzung von Entscheidungen, also Abbau von Blockadepositionen und Ausschaltung von Vetospielern, und schließlich eine genaue und zuverlässige Dokumentation von Impfungen, damit man nicht herumraten muss, wie es das RKI jetzt tut.

SPIEGEL: Haben Sie Vertrauen in das parlamentarische System Deutschlands?

Münkler: Ja, aber es ist permanent reformbedürftig. Der Bundestag muss durch eine Wahlrechtsreform wieder kleiner werden, die Beteiligungsmöglichkeiten der Bürger auf der kommunalen Ebene müssen ausgebaut werden, um die Erfahrung der Einflussnahme zu stärken, und die Verrechtlichung aller Ebenen ist zu begrenzen, um die Macht von den Juristen wieder zu den Bürgern zurückzuverlagern.

SPIEGEL: Erleben wir zurzeit eine »wehrhafte Demokratie«?

Münkler: Ich fürchte, die Antwort darauf fällt von Bundesland zu Bundesland unterschiedlich aus. Das Agieren einiger sächsischer Gerichte bei der Entfernung von Plakaten, deren Botschaft sich als Mordaufruf verstehen ließ, ist das Gegenteil einer wehrhaften Demokratie.

SPIEGEL: War Angela Merkel eine gute Kanzlerin?

Münkler: Diese Frage lässt sich pauschal nicht beantworten. Sie hat manches gut gemacht, einiges sogar sehr gut – aber was im einen Fall ihre Stärke war, war im anderen ihre Schwäche. Die Geduld etwa, die sie beim Schmieden von Kompromissen, zumal in Brüssel, aufgebracht hat, wurde zum Problem, wenn es darum ging, sich entschlossen an die Spitze von Entwicklungen zu setzen oder Entscheidungen zu forcieren. Machiavelli, mit dem ich mich viel beschäftigt habe, hat dieses Problem als das Zusammenpassen eines politischen Charakters mit den spezifischen Herausforderungen der Zeit bezeichnet, der »qualità dei tempi«, wie er das nennt.

SPIEGEL: Wird mit Olaf Scholz alles besser?

Münkler: Das werden wir sehen. In einer Dreierkoalition wird auch er immer wieder moderieren müssen, also ähnlich wie Merkel agieren. Wenn wir im Rückblick nach vier Jahren zu dem Ergebnis kommen, unter Scholz sei vieles besser gelaufen, wird das nicht nur ihn als Kanzler betreffen, sondern vor allem auch das Funktionieren der Koalition und die Leistungsfähigkeit der Bundesminister. Da hatte das letzte Kabinett Merkel einige Durchhänger.

SPIEGEL: Lieben Sie Europa?

Münkler: Ich mache in Europa gern Urlaub, schaue mir Städte wie Landschaften an und genieße es, dass die Grenzkontrollen im Prinzip weggefallen sind (das Corona-Regime hat uns wieder an die alten Zeiten erinnert) und auch der lästige Geldumtausch durch den Euro überflüssig geworden ist. Das schätze ich sehr.

SPIEGEL: Lieben Sie Deutschland?

Münkler: Der Begriff der Liebe ist mir zu intim, um die Wertschätzung politischer Entwicklungen zu bezeichnen.

SPIEGEL: Hat Deutschland ein Antisemitismusproblem?

Münkler: Zweifellos. Das haben freilich auch manche anderen Länder, in Deutschland fällt es eben besonders auf. Und man erwartet, dass es in Deutschland keine Provokateure gibt, die antisemitische Äußerungen nutzen, um sich in Szene zu setzen.

»Intellektuelle Führung ist bei uns weniger spektakulär, aber wohl nachhaltiger.«

SPIEGEL: Fehlt dem Land ein intellektueller Kompass?

Münkler: Eigentlich nicht. Wir haben eine durchaus lebhafte Debattenkultur, die als intellektueller Kompass angesehen werden kann. Was wir nicht oder nur randständig haben, sind Intellektuelle, die eine politische Führungsrolle spielen, wie das in Frankreich lange der Fall gewesen ist – keineswegs nur mit glücklichen Folgen. Intellektuelle Führung ist bei uns weniger spektakulär, aber wohl nachhaltiger.

SPIEGEL: Wer sind die drei klügsten Köpfe der Republik?

Münkler: Oje! Ich fürchte, da muss ich passen, denn manchen, den ich eigentlich für sehr klug halte, finde ich bei manchen seiner Positionierungen einfältig, um nicht zu sagen dumm, und einige Einfältige beeindrucken mich mitunter. Und vor allem habe ich niemanden so dauerhaft im Blick, dass ich ihn wirklich mit dem Superlativ belegen könnte.

SPIEGEL: In Ihrem neuen Buch »Marx, Wagner Nietzsche«  beschreiben Sie die intellektuelle Sprengkraft dreier Männer des 19. Jahrhunderts. Warum sollte man Ihr Buch lesen?

Münkler: Weil sich bei allen dreien, bei einem mehr, bei anderen weniger, sehr kluge Überlegungen neben schrecklichen Irrtümern finden und man beides, das Kluge und das Irrige, nie so gut unterscheiden kann wie in der Retrospektive. Sich mit den dreien zu beschäftigen, führt also zu einer gewissen Zurückhaltung gegenüber gegenwärtigen Ideen. Und gleichzeitig findet man bei den dreien unterschiedliche Antworten auf einen gesellschaftlichen Umbruch, die allesamt ihr Recht haben, auch gegeneinander. Man wird, wenn man zuvor vorlaut gewesen ist, eher kleinlaut, wenn man sich auf die Analysen und Deutungen der drei einlässt, und man staunt darüber, wie sehr ihre Vorstellungen von den Adepten missverstanden und mithin verfälscht worden sind.

SPIEGEL: Ihre Lieblingsoper von Wagner?

Münkler: Ganz fraglos der »Ring des Nibelungen«, und davon wiederum die »Walküre«.

SPIEGEL: Welche »Ring«-Inszenierung in Bayreuth war die eindrucksvollste?

Münkler: Die von Patrice Chéreau aus dem Jahre 1976, aber die habe ich nicht in Bayreuth gesehen, sondern ein paar Jahre später in Filmaufnahmen. Das hat mit den von Chéreau vorgenommenen Überblendungen des Stoffs mit den Konstellationen des 19. Jahrhunderts zu tun, durch die das im weiteren Sinn Mythische zum Gegenwartsdiagnostischen wurde. Das hat dann Schule gemacht.

SPIEGEL: Ist Marx’ Kapitalismusanalyse heute noch gültig?

Münkler: In den Grundzügen ja, und da vielleicht mehr als in der Zeit ihrer Entstehung, weil Marx vieles antizipiert hat (etwa die Globalisierung), was damals erst in den Anfängen steckte; in vielen Einzelheiten nicht. Ansonsten hat Marx bis zuletzt immer wieder Modifikationen an seinen Überlegungen vorgenommen, heißt, er ist selbst gar nicht davon ausgegangen, dass das, was er geschrieben hatte, das letzte Wort in der Sache sei.

SPIEGEL: Ist Politik auf ästhetischer Grundlage zum Scheitern verurteilt?

Münkler: Es gibt wohl kaum eine Politik, die nicht eine ästhetische Seite hat, das können wir am ständigen Kampf um Bilder und die Durchsetzung bestimmter Vorstellungen mithilfe bestimmter Bilder sehen. Solche Bilder haben einen stärker emotionalen Zugang zu unserem Denken und Handeln als Worte und Texte. Darüber ist viel geschrieben worden. Sie meinen aber vermutlich nicht die Ästhetisierung der Politik, sondern die Politisierung der Ästhetik, also den Versuch von Künstlern und Intellektuellen, mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln in die Politik einzugreifen. Da stehen Erfolg und Scheitern nebeneinander. Goyas »Desastres« aus dem antinapoleonischen Krieg in Spanien haben unseren Blick auf den Krieg verändert, aber das Projekt einer Wiederverzauberung der Welt mit den Mitteln der Kunst hat eher auf der persönlich-emotionalen Ebene Wirkung, als dass es die Welt tatsächlich verändert.

SPIEGEL: Was bleibt von Nietzsche?

Münkler: Vor allem sein scharfer Blick für das, was er als »Menschliches, Allzumenschliches« bezeichnet hat, also der Nietzsche, der an die französische Moralistik von Montaigne und La Rochefoucault angeschlossen hat.

SPIEGEL: Wie denken Sie über Nietzsches Kunstlieder?

Münkler: Die haben mich genauso wenig beschäftigt wie Nietzsches Kompositionen.

SPIEGEL: Was macht einen guten Witz aus?

Münkler: Dass man die Pointe nicht sogleich errät, sondern sie überraschend kommt. Das nämlich ist es, was uns lachen macht.

SPIEGEL: Was macht ein gutes Restaurant aus?

Münkler: Gutes Essen, also Qualität statt Chichi, aufmerksamer Service und eine ansprechende Räumlichkeit.

SPIEGEL: Trauern Sie dem alten Europa nach?

Münkler: Nicht dem Europa der nationalistischen Gegensätze, auch nicht dem Europa der kolonialistischen oder imperialistischen Expansion, mitunter dem Europa der aufgeklärten Geistigkeit, der Ruhe und Gelassenheit – aber das sind eher Imaginationen als reale Erfahrungen. Es ist vermutlich ein Wunschbild, das in die Vergangenheit projiziert ist.

SPIEGEL: Glauben Sie an ein neues Europa?

Münkler: Was heißt schon glauben. Ich habe Wünsche und Erwartungen, dazu Vorstellungen von dem, was politisch vonnöten ist, bin aber nicht sonderlich optimistisch, dass ich das erleben werde.

SPIEGEL: War der Brexit ein Fehler?

Münkler: Das müssen die Briten entscheiden. Er hat jedenfalls Europa nicht gestärkt. Und er verlockt jetzt die Polen, im Schatten des Brexits das Europaprojekt weiter zu durchlöchern. Also eher ein Verhängnis.

SPIEGEL: Ist Papst Franziskus ein guter Papst?

Münkler: Vermutlich einer, der es gut meint, aber zu schwach ist, das gut Gemeinte auch durchzusetzen.

SPIEGEL: In einem Satz: Machiavelli war …

Münkler: … ein überzeugter Republikaner, der eine auf breiter sozialer Grundlage errichtete Republik in einer Zeit bürokratischer Machtkonzentration verteidigen wollte und dabei der Überzeugung war, dass dies nicht durch Beten und Bitten zu erreichen war.

SPIEGEL: Würde Machiavelli heute in der Politik überleben?

Münkler: Kommt darauf an, wo er leben würde. In Russland – sehr zu bezweifeln. Als US-amerikanischer Whistleblower würde er im Exil sein oder im Gefängnis. Aber vor allem: Welchen Machiavelli meinen Sie: den aktiven Politiker, der wegen seiner republikanischen Überzeugungen abgesetzt und verbannt wurde, oder den Denker und Schriftsteller, der Politik in zynischer Offenheit beschrieben hat?

SPIEGEL: Sind Sie für oder gegen Gendersternchen?

Münkler: Sie blockieren den Lesefluss und stören das Satzbild, aber sie reagieren auf ein großes Problem, das darin besteht, dass das Gesagte bzw. Geschriebene das Denkbare beherrscht. Man muss darüber weiter nachdenken, ohne dass die Sternchen sogleich als die Lösung angesehen werden.

SPIEGEL: Fehlt Ihnen das »Literarische Quartett« um Reich-Ranicki?

Münkler: Als Literatursendung durchaus; die Nachfolgesendungen haben keine Konturen erlangt, weil ihnen die Urteilsschärfe wie Unterhaltsamkeit von Reich-Ranicki fehlte.

SPIEGEL: Wie viel recherchieren/schreiben Sie jeden Tag?

Münkler: Es gibt Tage, an denen ich vor allem lese und mir Notizen mache, auf die ich später zurückgreifen kann, und es gibt Tage, an denen ich schreibe, also Text produziere. Beim Schreiben sind es zwischen fünf und acht Seiten – kommt darauf an, wie komplex das Darzustellende bzw. zu Analysierende ist. Beim Notizenmachen kann ich den Umfang nicht beziffern.

SPIEGEL: Welche Bücher lesen Sie gerade?

Münkler: Bücher über die Türkenkriege vom 14. bis zum 18. Jahrhundert. Ich denke zurzeit über die Entstehung von Weltordnungen bzw. deren Imagination in den Köpfen politischer Akteure nach, und da interessiert mich der Kampf zwischen den Osmanen und den Habsburgern.

SPIEGEL: Welche drei Bücher über Politik sollte jeder gelesen haben?

Münkler: Wenn es unbedingt nur drei sein dürfen: Aristoteles »Politik«, Machiavellis »Principe« und Marx’ »Achtzehnter Brumaire des Louis Bonaparte«.

»Der Sinn des Lebens? Dass es eines gewesen ist, aus dem man, wie es in Luthers Bibelübersetzung heißt, »lebenssatt« ausscheiden kann.«

SPIEGEL: Lesen Sie noch Zeitung?

Münkler: Ja, sogar mehrere Zeitungen. Ich lese da genauer und aufmerksamer, als wenn ich ins Internet gehe.

SPIEGEL: Hat Peter Handke den Literaturnobelpreis verdient?

Münkler: Nach meinen Vorstellungen nicht, aber da ist er nicht der Einzige.

SPIEGEL: Gibt es eine militärische Leistung der letzten Jahre, die Sie bewundern?

Münkler: Nein.

SPIEGEL: Haben Sie Angst vor dem asymmetrischen Krieg?

Münkler: Angst ist fast immer eine dysfunktionale Reaktion. Es gehört zu den wichtigsten Aufgaben der Politik, Angst in Furcht zu verwandeln, also eine diffuse Disposition in ein gerichtetes Vorsichtsverhalten zu verwandeln, und das nicht nur bei den Spezialisten der Problembearbeitung, sondern auch in der breiten Bevölkerung. An die Stelle von Angst tritt dann Aufmerksamkeit und Vorbereitung.

SPIEGEL: Wer war der beste James-Bond-Darsteller?

Münkler: Sean Connery.

SPIEGEL: Bei welchem Weltereignis wären Sie gerne dabei gewesen?

Münkler: Als Leser vieler Bücher habe ich die Chance, tendenziell bei jedem Weltereignis dabei zu sein – und obendrein zu wissen, dass es sich um ein Weltereignis handelt, dass also, frei nach Goethe, von hier und heute eine neue Zeit ausgeht. Das wissen die Zeitgenossen ja zumeist gar nicht. Da hat es der Leser, der den Vorzug des »im Nachhinein« genießt, sehr viel leichter. Physische Präsenz ist nicht so wichtig.

SPIEGEL: Das nehmen wir Ihnen nicht ab.

Münkler: Okay, wenn es unbedingt sein muss: bei der Kaiserproklamation im Januar 1871 im Spiegelsaal von Versailles, und zwar als Zivilist, ohne Uniform und ohne Säbel, aber in der ersten Reihe. Das wäre dann, wenn Anton von Werner mich da nicht bloß hineingemalt hätte, sondern ein Bürger so prominent hätte dabei sein können, auf einen anderen Verlauf der deutschen Geschichte hinausgelaufen. Dafür hätte sich physische Präsenz gelohnt.

SPIEGEL: Vergeht die Zeit langsam oder schnell?

Münkler: Je älter ich werde, desto schneller. Leider.

SPIEGEL: Sind Sie für ein Tempolimit?

Münkler: Als (unvernünftiger) Autofahrer nicht unbedingt, als (verantwortungsbewusster) Großvater zweier Enkelkinder sehr wohl.

SPIEGEL: Mit wem würden Sie gerne einmal zu Abend essen?

Münkler: Keine Ahnung. Es gibt viele, mit denen ich mich einmal unterhalten würde – aber Abendessen? Da hat man schon das Problem, in welchem Restaurant das stattfinden soll, und dann die Auswahl des Essens, die Festlegung der Gänge … Also dann doch lieber auf eine Tasse Kaffee oder ein Glas Wein. Und Abendessen bleiben den Freunden und der Familie vorbehalten.

SPIEGEL: Was steht heute auf Ihrem Einkaufszettel?

Münkler: Ein scanfähiger Drucker und Kopierer.

SPIEGEL: Ihr Tipp für die nächste Generation?

Münkler: Sich nicht durch die Fülle der diffusen Informationen ablenken lassen und der Zerstreuung entgegenzuarbeiten.

SPIEGEL: In welchem Klub sind Sie Mitglied?

Münkler: In keinem.

SPIEGEL: Was ist der Sinn des Lebens?

Münkler: Dass es eines gewesen ist, aus dem man, wie es in Luthers Bibelübersetzung heißt, »lebenssatt« ausscheiden kann.

SPIEGEL: Glauben Sie an ein Leben nach dem Tod?

Münkler: Nein. Aber an ein Nachleben vermittels dessen, was man hinterlässt – nach Möglichkeit nicht nur im materiellen Sinn.

SPIEGEL: Was soll auf Ihrem Grabstein stehen?

Münkler: Das sollen meine Frau oder meine Kinder entscheiden.

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