Herfried Münkler über den Zustand der Welt "Die Weltordnung steht auf der Kippe"

Der Politologe Herfried Münkler: In gelassener Heiterkeit
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Die Buchmesse ist ein Ort des Diskurses. In diesem Jahr müssen wir ihn virtuell stattfinden lassen. Anstelle eines Gesprächs am Messestand haben sich Intellektuelle, Schriftstellerinnen und Schriftsteller bereit erklärt, in einem SPIEGEL-Fragebogen Auskunft zu geben. Den Anfang machte die Autorin Annie Ernaux, nun antwortet der Politikwissenschaftler Herfried Münkler .
Herfried Münkler, Jahrgang 1951, lehrte bis zu seiner Emeritierung 2018 Politische Theorie und Ideengeschichte an der Humboldt-Universität in Berlin. Er schrieb zahlreiche Bestseller, etwa 2002 "Die neuen Kriege" und zusammen mit seiner Ehefrau Marina Münkler 2019 "Abschied vom Abstieg. Eine Agenda für Deutschland". Er ist Gesprächspartner und Ratgeber führender deutscher Politikerinnen und Politiker.
Wie ist Ihre gegenwärtige Geistesverfassung?
Eigentlich von gelassener Heiterkeit. Mit der Pensionierung sind die Elemente der Fremdbestimmung verschwunden; ich bin bislang unbeschadet durch die Pandemie gekommen und habe so viel zu tun, dass ich mich nicht langweile.
Und wie empfinden Sie den Zustand Ihrer Nation? Und der Welt?
Das ist das, wofür das "eigentlich" in der vorangegangenen Antwort steht. Deutschland steht im europäischen Vergleich zwar recht gut da, aber die Führungsaufgaben, die ihm in der EU zufallen beziehungsweise die es übernehmen muss, überfordern seine Fähigkeiten und seine Bereitschaft, entsprechende Fähigkeiten auszubilden. Der Höhepunkt der gesellschaftlichen Spaltung in der Migrationsfrage scheint zwar überschritten zu sein, aber Missmut und Groll sind weiterhin allenthalben zu spüren. Obendrein schwindet das genuin politische Engagement der Bürger; die Demokratie droht von den Wurzeln her auszutrocknen. Und die Weltordnung steht auf der Kippe: Selbstblockierte Vereinte Nationen, die im 75. Jahr ihres Bestehens die Rolle eines Vertreters globaler Interessen nicht spielen können, der Rückzug der USA aus globalen Aufgaben und ihre Beschränkung auf die Verfolgung von Eigeninteressen, dazu immer aggressiver agierende Akteure, wie China und Russland, die sich an internationale Verträge und Verpflichtungen nicht halten. Und eine schwache, uneinige EU. Das alles macht Sorgen.
Corona, Klimawandel, soziale Ungleichheit, Digitalisierung - wo sehen Sie die größte Bedrohung für eine humane Gesellschaft?
Sicherlich im Klimawandel, gefolgt von der Pandemie. Beide werden die soziale Ungleichheit vergrößern - innerhalb Deutschlands, aber auch im globalen Rahmen. Verglichen damit ist die Digitalisierung eine prinzipiell handhabbare und demgemäß auch bewältigbare Herausforderung. Wir müssen nur endlich energisch damit beginnen.
Die Zwanzigerjahre des vorigen Jahrhunderts wurden mal die goldenen genannt, dann die Roaring Twenties. Welches Adjektiv fällt ihnen für unser Jahrzehnt ein?
Eine Zeit der Ungewissheit und Unsicherheit, eine fundamentale Erwartungsenttäuschung auf vorerst fortdauernd hohem Wohlstandsniveau, also eine Epoche des verängstigten Wohlstands.
Liberté, Égalité, Fraternité - welcher der drei Begriffe der Französischen Revolution braucht eine Wiederbelebung?
In Berlin lautet ein Slogan als Warnung vor zu sorglosem Verhalten in den Zeiten von Corona: Liberté, Égalité, Charité - Freiheit, die voluntaristisch auf sich selbst bezogen ist, Gleichgültigkeit statt Gleichheit, schließlich Einlieferung in die bekannte Klinik und Angewiesenheit auf die Barmherzigkeit der anderen, wenn man "charité" ins Deutsche übertragen will. Alle drei Begriffe bedürfen der Wiederbelebung, und die beginnt damit, sie neu zu durchdenken. Wir verstehen sie inzwischen vor allem als Anspruchsbegriffe, in denen Erwartungen an Staat und Gesellschaft adressiert werden. Wiederbelebung heißt zu begreifen, dass dies immer auch Begriffe der Selbstverpflichtung sind: Wie kann meine Freiheit mit der aller anderen zusammen bestehen? Was wir unter Gleichheit verstehen wollen, muss ständig neu geklärt werden, und bei der Brüderlichkeit ist darauf zu achten, dass Solidarität nicht nur über die Umverteilungsmechanismen des Sozialstaats administriert, sondern auch praktisch gelebt wird.
Abschied vom Abstieg: Eine Agenda für Deutschland
Preisabfragezeitpunkt
21.03.2023 14.41 Uhr
Keine Gewähr
Über welches Problem denken Sie gerade nach?
Über die Frage, wie man aus der Frankfurter Paulskirche einen Gedenkort der deutschen Demokratie machen kann.
Welches Buch hat Sie zuletzt beschäftigt?
Das, an dem ich gerade schreibe: ein imaginäres Gespräch zwischen Karl Marx, Richard Wagner und Friedrich Nietzsche über die Herausforderungen ihrer Zeit und die Gestaltungsmöglichkeiten der Zukunft. Was haben die drei so unterschiedlichen Denker und Künstler uns für die Gegenwart zu sagen? Was verbindet sie, was trennt sie? Wie blicken wir auf eine Welt im Umbruch? Umbruch ist die dominante Erfahrung aller drei. Darin sind sie uns sehr nahe.
Vermittelt die Pandemie irgendeine Botschaft?
Wohl nur die, die wir in sie hineininterpretieren: Wie lassen sich in einer Ära der Globalität zunächst regionale Krisen und Katastrophen räumlich begrenzen? Wenn nicht: Erleben wir gerade, wie der globale Austausch vom Segen zum Fluch wird? Und was heißt das, wenn dem so ist? Stehen wir am Vorabend einer säkularen Wende, mit der die Rückkehr zu gegeneinander abgeschirmten Großräumen beginnt?
Gibt es eine Überzeugung, der Sie seit der Jugend treu geblieben sind?
Das wissen andere besser als ich selbst. Vermutlich gibt es solche Überzeugungen, aber ich selbst bin nicht derjenige, der sie verlässlich zu identifizieren vermag.
Serien ersetzen den Roman, Podcasts die Zeitungen - würden Sie zustimmen?
Das mag allgemein so sein. Ich selber halte am Roman als abgeschlossener Erzählung fest. Serien, in denen bei Erfolg ständig neue Staffeln hinterhergeschickt werden, führen bei mir schnell dazu, dass ich ihrer überdrüssig werde. Und Zeitungen bevorzuge ich nach wie vor gegenüber Podcasts. Das könnte eine Generationenfrage sein, aber auch eine Auseinandersetzung mit den Imperativen der Be- oder Entschleunigung.
Worüber sollten Medien mehr berichten?
Da wechseln meine Erwartungen von Woche zu Woche, wenn nicht von Tag zu Tag. Das Promi-Getöse hat zuletzt überhandgenommen, die solide Recherche, die ihren Niederschlag in längeren Texten findet, hat es schwer. Sie hat ihren Ort in der Qualitätspresse - und könnte zu deren Überlebenschancen beitragen.
Wie hat Corona Ihren Alltag beeinflusst?
Mehr Ruhe, weniger Hektik. Zeitweilig keine Reisen, statt dessen konzentrierte Arbeit am Schreibtisch. Und da das ebenso bei meiner Frau der Fall war, sehr viel häufigeres gemeinsames Kochen. Man merkt mit einem Mal, was einem zuvor gefehlt hat. Ich weiß aber durchaus auch, dass es für viele Menschen Lebenskonstellationen gibt, in denen sich all das genau umgekehrt darstellt: Kindergärten und Schulen geschlossen, Homeoffice und Homeschooling gleichzeitig, und das in einer kleinen Wohnung - ein einziger Stresstest, bei dem es nur noch die Hoffnung gibt, dass das alles bald vorbei ist.

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Es ist kein einfaches Jahr. Gab es einen besonders schönen, privaten Moment und würden Sie ihn beschreiben?
Nicht einen, sondern viele: morgendliche Sonnenaufgänge bei gutem Wetter und das Gefühl, dass der anbrechende Tag mir allein gehört.
Kennen Sie eine Lieblingszeile oder einen Zauberspruch, mit dem man gut durch diese Zeiten kommt?
Platons "Ta de megalla episphalé": Alles, was jetzt groß ist, ist endlich und wird auch verschwinden. Heidegger hat übersetzt: Alles Große steht im Sturm. Das Heroische Heideggers klingt bei mir eher melancholisch.
Was macht Ihnen Mut?
Mut mache ich mir selber. Jeden Tag. Auch das ist eine Form von Unabhängigkeit, wenn man nicht auf andere und Zufälle angewiesen ist, mit Mut in den Tag und die Woche zu gehen.