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Innenleben: Der Seele auf der Spur

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Neurobiologie "Die Seele ist eine Hirnfunktion"

Der Hirnforscher Gerhard Roth spürt der Seele nach. Im Interview spricht er über evolutionäre Vorteile, den Hass der Geisteswissenschaftler und die Mona Lisa.

SPIEGEL ONLINE: Herr Professor Roth, von Hirnforschern sind wir gewohnt, dass sie von kleinen und konkreten Dingen sprechen, von Genen und Hormonen zum Beispiel. Sie haben jetzt einen großen und eher diffusen Begriff hervorgeholt, den der "Seele". Warum?

Roth: Die Seele muss nicht immer etwas Religiöses sein. Alles, was wir empfinden, das ganze Sammelsurium von Gedanken, Wahrnehmungen und Vorstellungen, nenne ich "Seele". Sie umfasst sehr viel mehr als der "Geist". Nicht nur kognitive Vorgänge, sondern unsere gesamte Erlebnis- und Gefühlswelt. Das ist übrigens auch, was große Philosophen wie Descartes oder Kant unter der Seele verstanden haben. Natürlich hat der Titel "Wie das Gehirn die Seele macht" eine gewisse Ironie, weil es in der Philosophie über 2000 Jahre lang die Frage gab, wo die Seele sitzt.

SPIEGEL ONLINE: Und Sie haben die Seele endlich aufgespürt?

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Gerhard Roth, 1942 in Marburg geboren, ist einer der führenden deutschen Neurobiologen und leitete viele Jahre das Institut für Hirnforschung an der Universität Bremen. Bekannt wurde er durch seine Bücher "Das Gehirn und seine Wirklichkeit", "Fühlen, Denken, Handeln" und "Aus Sicht des Gehirns".

Roth: Na ja, schon Platon hat vermutet, dass die Seele im Gehirn sitzt. Aber man hat damals etwas Mystisches darunter verstanden. Erst seit etwa 50 Jahren ist klar, dass die seelischen Funktionen mit Mechanismen und Zentren im Gehirn zu tun haben.

SPIEGEL ONLINE: Ist die Seele ein Abfallprodukt unserer Hirnströme?

Roth: Keineswegs! Wie wichtig Empfindungen, Selbstreflektion und Gefühle unserem Körper sind, sieht man schon daran, dass diese seelischen Zustände - oder zumindest ihre neurobiologischen Korrelate - sehr viel Sauerstoff und Zucker verbrauchen. Das Gehirn würde für ein Nebenprodukt gar nicht so viele Ressourcen verschwenden.

SPIEGEL ONLINE: Was ist der evolutionäre Vorteil der Seele?

Roth: Unser Bewusstsein dient zum einen dem Gedächtnis: An die bewusst erlebten Dinge können wir uns sehr viel besser erinnern als an die unbewussten. Zum anderen wären die sprachliche Kommunikation und Handlungsplanung ohne Bewusstsein völlig unmöglich. Diese beiden Dinge, Handlungsplanung und Sprache, machen uns Menschen zu Menschen.

SPIEGEL ONLINE: Haben Tiere eine Seele?

Roth: Ja. Der Mensch hat vielleicht die komplexeste Seele, aber es gibt Vorstufen. Wir müssen annehmen, dass die Entwicklung der Seele ein langer evolutionärer Prozess war, der eine Reihe von Tieren hervorgebracht hat, von denen wir mit ziemlicher Sicherheit sagen können, dass sie ein Bewusstsein, vielleicht sogar ein Selbstbewusstsein und natürlich auch bewusste Gefühle haben.

SPIEGEL ONLINE: Sie schreiben in Ihrem Buch: "Das Gehirn des Menschen ist ein typisches Primatengehirn, und darüber hinaus ein typisches Säuge- und Wirbeltiergehirn."

Roth: Genau. Einen qualitativen Unterschied gibt es da nicht.

SPIEGEL ONLINE: Wenn das stimmt, wie kann es sein, dass Schimpansen und Feldmäuse keine Pyramiden bauen, keine Videos auf YouTube laden und keine Liebesbriefe schreiben?

Roth: Es gab für uns einen entscheidenden Sprung, die Erfindung der menschlichen Sprache vor etwa 100.000 Jahren. Man kann sie als Intelligenzverstärker ansehen. Natürlich sind wir den Tieren da sehr überlegen, aber auch Menschenaffen können lernen, die menschliche Sprache zu verstehen. Auch der Vogelgesang scheint nach neuesten Erkenntnissen eine Sprache zu sein. Eine ganz andere Sprache als die unsrige, aber eventuell genauso effektiv, mit eigener Grammatik, Syntax und so weiter.

SPIEGEL ONLINE: Sie waren bereits promovierter Philosoph, ehe Sie sich der Biologie zugewendet haben. Kann die Hirnforschung die Philosophie überflüssig machen, wenn es um Fragen des Bewusstseins, der Seele und des Menschseins geht?

Roth: Nein. Stattdessen geht es darum, ob man philosophische Annahmen mit Befunden der Naturwissenschaft in Einklang bringen kann. Es gibt nichts, worüber man in der Philosophie nicht streitet. Wenn Philosophen über das "Ich" nachdenken und das mit biologischen oder psychologischen Einsichten verbinden können, dann ist das doch etwas ganz Tolles.

SPIEGEL ONLINE: Gleichwohl klingt es in Ihrem Buch so, als wären die Geisteswissenschaften eine eherne Bastion, die die Hirnforschung abzuwehren versucht.

Roth: Das stimmt. Viele Geisteswissenschaftler haben da eine extreme Scheu, eine Kränkung oder gar einen Hass.

SPIEGEL ONLINE: Sogar Hass?

Roth: Ja, Hass. Es gibt Philosophen, die verbieten ihren Studenten, in die Vorlesungen von Hirnforschern zu gehen. Das sind Ignoranten, die haben Angst, man würde ihnen den Job wegnehmen. Viele Philosophen und Theologen haben einen ausgeprägten Alleinvertretungsanspruch. Die Hirnforschung hat diesen Anspruch nicht. Sie behauptet nichts, was philosophisch nicht schon gedacht war, aber sie kann sagen, was davon naturwissenschaftlich fundierbar ist und was nicht.

SPIEGEL ONLINE: Der Philosoph Peter Bieri erklärte den Unterschied von Natur- und Geisteswissenschaften einmal mit dem Gemälde der Mona Lisa. Er sagte sinngemäß: Man kann die Mona Lisa vermessen, man kann sie wiegen, man kann die Pigmentstruktur ihrer Farben untersuchen - aber das Geheimnis ihres Lächelns ergründet man dadurch nicht.

Roth: Ich kenne Herrn Bieri sehr gut und schätze vieles an ihm, aber ich teile seine Meinung nicht. Selbstverständlich kann man untersuchen, warum Menschen die Mona Lisa so rätselhaft finden. Vielleicht können wir eines Tages erklären, warum der eine die Mona Lisa schön findet und der andere nicht. Ich bin kein Reduktionist. Ohne Gehirn kann man die Mona Lisa nicht schön finden, aber das heißt nicht, dass man die Empfindung der Schönheit in den Neuronen finden würde, sondern: Die Neuronen müssen in irgendeiner Weise interagieren, damit auf einer anderen Ebene das Erlebnis ästhetischer Schönheit entsteht. Diese "andere Ebene" aber unterliegt auch den Naturgesetzen.

Das Interview führte Oskar Piegsa

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