
Hitler-Monografie Der Wahn vom vergifteten Volkskörper
Am 12. Dezember 1941, einen Tag nach seiner Kriegserklärung an die USA, versammelte Hitler in der Berliner Reichskanzlei die Gau- und Reichsleiter. Anschließend schrieb Propagandaminister Joseph Goebbels in sein Tagebuch: "Bezüglich der Judenfrage ist der Führer entschlossen, reinen Tisch zu machen. Er hat den Juden prophezeit, dass, wenn sie noch einmal einen Weltkrieg herbeiführen würden, sie dabei ihre Vernichtung erleben würden. Das ist keine Phrase gewesen. Der Weltkrieg ist da, die Vernichtung des Judentums muss die notwendige Folge sein."
Zuletzt hat der britische Historiker Ian Kershaw in seinem Buch "Wendepunkte" jenen Monat beschrieben, in dem Hitler die Tötungen radikalisierte. Seit dem Überfall auf die UdSSR im Sommer 1941 wüteten in den eroberten Gebieten bereits die Einsatzgruppen. Nun wurde die industrielle Vernichtung in Angriff genommen, wenige Wochen später begannen die organisatorischen Vorbereitungen auf der geheimen Wannseekonferenz, zu der SS-Obergruppenführer Reinhard Heydrich geladen hatte.
Dass der Massenmord - ob durch die SS, mit Hilfe oder Duldung der Wehrmacht oder dem zivilen Verwaltungsapparat - mit letzter Konsequenz durchgeführt wurde, ist bestens dokumentiert. Nach einer mittlerweile unüberschaubaren Menge an Publikationen bleibt dennoch die Frage: Wieso trieb Hitler den Judenmord so obsessiv voran?
Joachim Riecker, 46, Hauptstadtredakteur der "Märkischen Allgemeinen Zeitung" in Potsdam und Korrespondent der "Neuen Zürcher Zeitung", wurde mit dieser Frage 1995 konfrontiert. Auf einer Zugfahrt, nach einem Gespräch über die NS-Zeit, wandte sich eine junge Frau an ihn: "Was hatte er eigentlich gegen die Juden?"
Trauma und Paranoia
Riecker hat diese simple Frage nicht mehr losgelassen. In seinem Buch "Hitlers 9. November" versucht er sich nun an einer Antwort. Seine These: Der Judenhass Hitlers speiste sich aus der Niederlage Deutschlands im Ersten Weltkrieg. Der promovierte Historiker hat eine Fülle von Zitaten, Reden und Äußerungen Hitlers zusammengetragen. Sie drehen sich um einen Kern: Die Juden seien schuld gewesen am 9. November 1918, als im Deutschen Reich die Republik ausgerufen wurde und das Land in die Revolutionswirren hineintaumelte.
Aufstieg und Fall Hitlers verbindet Riecker konsequent mit dem antisemitischen Wahn des Diktators und seiner deutschen (und auch europäischen) Helfer. Vieles ist bekannt, doch immer wieder erschütternd neu zu lesen. In seinem Weltbild verglich sich Hitler mit einem Tuberkulose-Arzt. Hitler habe die Tötung der Juden als "Heilung", erst Deutschlands, dann ganz Europas gesehen, so Riecker.
Bemerkenswert und streitbar ist der Blick auf die innige Beziehung Hitlers zur Mutter. Sie starb 1907 an Brustkrebs, damals wurde eine Blutvergiftung angenommen. Die Krankheit und der qualvolle Tod - für den Autor durchaus ein Schlüsselmoment. Riecker geht es hierbei nicht um Psychologisierung. In den Reden Hitlers fiel ihm auf, dass auffallend oft das Bild von der "Vergiftung" des "Volkskörpers" verwendet wurde. Nur ein damals gängiges völkisches Klischee? Im Falle Hitlers erhält es, so deutet es Riecker, eine zusätzliche, persönliche Note.
Die These ist nicht neu. Der US-Historiker Rudolph Binion hat Hitlers Hass auf die Juden sogar aus der angeblich falschen Behandlung der Mutter durch den jüdischen Hausarzt Eduard Bloch zu erklären versucht. Riecker folgt ihm darin nicht. Schließlich habe Hitler den Mediziner später in die USA ausreisen lassen. Doch was aus dem Umstand des Todes der Mutter folgte, waren sprachliche Muster. Noch im Bunker, kurz vor seinem Selbstmord, tauchen sie im politischen Testament auf - etwa im Begriff vom Judentum als "Weltvergifter aller Völker".
"Deutschland, tote Mutter" hat Riecker das Kapitel in Anlehnung an Brechts "O Deutschland, bleiche Mutter" überschrieben. Die Gleichsetzung ist durchaus stimmig: Theatralisch überhöhte Hitler die Unterzeichnung des Waffenstillstands 1918 in "Mein Kampf": "Seit dem Tage, da ich am Grabe der Mutter gestanden, hatte ich nicht mehr geweint."
Das ganze Ausmaß des Massenmordes wurde erst nach 1945 deutlich. Doch wer in Deutschland hören wollte, der konnte selbst in den öffentlichen Reden jene Vernichtungsexzesse erahnen, die Hitler schließlich Wirklichkeit werden ließ. Die nachträgliche Analyse dieser Schreckensmetaphorik gehört zur Pflicht und Aufgabe des geschichtskritischen Diskurses. Joachim Riecker hat ihn um ein aufschlussreiches Buch bereichert.
Joachim Riecker: "Hitlers 9. November. Wie der Erste Weltkrieg zum Holocaust führte", Wolf Jobst Siedler Verlag jr., 295 Seiten, 22 Euro