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Holm Friebes Sachbuch "Die Stein-Strategie": Den Zauderern gehört die Welt

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Holm Friebes Sachbuch "Die Stein-Strategie" Die zweite Maus bekommt den Käse

Von Steinen lernen, heiße liegen lernen, hat der Komiker Robert Gernhardt einmal geschrieben. Aber kann man noch mehr von ihnen lernen? Der Autor Holm Friebe begründet in seinem Sachbuch die "Stein-Strategie", warum es oft am besten ist, nichts zu tun.

Wie sollte sich ein Torhüter beim Elfmeter verhalten? Statistisch betrachtet, sollte er sich nicht nach links werfen und nicht nach rechts. Er sollte in der Mitte stehen bleiben. Warum aber macht kaum ein Torhüter das? Weil der Drang zum Handeln ihn davon abhält, ein Drang, der vor allem einer öffentlichen Erwartung entspringt: Wirft sich ein Torhüter in die falsche Ecke, sieht es aus, als hätte er Pech gehabt. Bleibt er stehen, sieht es aus, als sei er ein Trottel, der kapituliert hat. Kurzum: Wer als Torhüter beweisen möchte, dass er sein Geld wert ist, der bewegt sich. Auch wenn er seine Erfolgschancen damit schmälert.

Eine ähnliche Logik greife in vielen Lebensbereichen, schreibt Holm Friebe, studierter Volkswirt, Dozent für Designtheorie und Geschäftsführer der Zentralen Intelligenz Agentur in Berlin. In seinem neuen Sachbuch "Die Stein-Strategie" kritisiert er, dass unser gesellschaftliches Klima von Aktionismus geprägt sei. Vieles werde nur deshalb unternommen, damit etwas geschieht.

Die herrschende Macher-Mentalität schlägt sich in vielen populären Sprichwörtern nieder: Stillstand bedeutet Rückschritt. Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben. Den Letzten beißen die Hunde. Der frühe Vogel fängt den Wurm. Friebe kontert solche Sätzen mit einer anderen Weisheit aus dem Tierreich: Die zweite Maus bekommt den Käse. Sehr oft sei es so, dass die Zauderer den größeren Erfolg hätten, weil sie aus den Fehlern der risikobereiten Dynamiker die richtigen Schlüsse ziehen können.

Ein Stein erfindet sich nicht täglich neu

Abgesehen von diesem Beispiel setzt Friebe auf eine Metapher aus dem Reich toter Materie: "Steine sind ihrem gesamten Wesen nach grundsolide". Und weiter: "Steine erfinden sich nicht täglich neu als Blume, Fisch oder Schmetterling; sie bleiben sich treu und sind somit vorbildlich selbstidentisch". Der große Nonsens-Dichter Robert Gernhardt hat das in einem Kalauer mal so formuliert: "Von Steinen lernen, heißt liegen lernen".

Ähnlich wie Gernhardts Satz haben manche der Sätze Friebes einen blödelnden Ton, und den sollen sie wohl auch haben, weil sie die Metaphern-Verliebtheit gängiger Management-Literatur parodieren. Und ähnlich wie Gernhardts Satz sind Friebes Sätze mehr als witzig, sie sind gewitzt - und durchaus ernst zu nehmen.

Friebe schreibt kein weiteres Plädoyer für mehr Muße oder gar Faulheit, das wäre ein Missverständnis, Friebe entwirft eine Strategie. Wie andere Strategien zielt sie darauf, Interessen durchzusetzen, anders als andere Strategien beinhaltet sie jedoch keine Handlungsempfehlung. Beziehungsweise die Handlungsempfehlung, nicht zu handeln. Die stärkste Trumpfkarte kann es sein, keine Karte zu ziehen. Oder erst sehr spät.

Bei Tour-de-France-Etappen gewinnen meist diejenigen, die lange im Windschatten gefahren sind, nicht die aktionistischen Ausreißer, die sich Dutzende Kilometer weit alleine durch die Berge gequält haben. Viele Verliebte setzen auf eine ähnliche Strategie, wenn sie versuchen, ihr Objekt der Begierde zu erobern, ohne etwas zu unternehmen: "Willst Du was gelten, mach dich selten!" Die Queen hat das Prinzip in ihrer Öffentlichkeitsarbeit perfektioniert, die darin besteht, keine Öffentlichkeitsarbeit zu machen. Das Motto: "Never complain, never explain!" Fast alle Survival-Ratgeber empfehlen Verschollenen, da zu bleiben, wo sie sind - und so ihre Kräfte zu schonen. Sie sollen darauf vertrauen, dass nach ihnen gesucht wird.

Das Problem: Passivität führt einem eine missliche Lage deutlich vor Augen, Aktivität hingegen lenkt ab. Es ist schwierig, die Selbstbestimmung des eigenen Schicksals aufzugeben und sich sein eigenes Versagen einzugestehen.

Ähnlich mag das Managern und Politikern gehen: Abwarten und Ausharren erfordern viel Selbstdisziplin. Hinzu kommt, dass die Öffentlichkeit von ihnen erwartet, Initiative zu ergreifen und Reformen anzustoßen. Das ist Teil ihres Jobprofils, dafür werden sie bezahlt. Die Folge sind nicht selten symbolische Aktionen und Schnellschüsse.

Dem herrschenden Ideal des charismatischen Machers setzt Friebe das des postheroischen Managers entgegen: Der postheroische Manager hat verstanden, dass die Steuerbarkeit komplexer sozialer Systeme gemeinhin überschätzt wird. Sie mögen es nicht, wenn an ihnen herumgebastelt wird. Der postheroische Manager regiert mit ruhiger Hand und vertraut darauf, dass Systeme schon wissen, was sie tun und was gut für sie ist. Zumindest bis zu einem gewissen Grad.

Die Überschätzung des Fortschritts

Unternehmen, die in diesem Stil geführt werden, sind unter Umständen nicht sonderlich innovativ. Das heißt aber nicht, dass sie nicht erfolgreich sind. Friebe schreibt, dass viele Pioniere neuer Technologien die Dynamik des Fortschritts systematisch überschätzen. Das liege daran, dass Experten vor allem mit anderen Experten sprächen, so dass sie sich in ihrer selektiven Weltwahrnehmung gegenseitig bestätigten.

Mit anderen Worten: Sie stecken in einer Zukunftsblase. Sie gehen davon aus, "dass alles, was möglich und technisch machbar ist, bald schon im Mainstream angekommen sein wird". Ein Beispiel: Der Tod der Printmedien durch die Konkurrenz des Online-Journalismus wurde schon in den Neunzigern so laut beschrien, dass man sich heute trotz aller Krisensymptome wundern kann, wie lebendig und hochprofitabel viele Zeitungen und Zeitschriften noch immer sind. Ein anderes: Zwei Drittel aller neuen Supermarkt-Artikel sind nach einem Jahr wieder aus den Regalen verschwunden, trotz aller Anstrengungen der Marktforschung.

Diese enorme Flop-Rate sorgt für eine ungeheure Verschwendung von Unternehmenskapital. "Wenn man immer davon ausgeht und darauf setzt, dass sich nichts verändert", schreibt Friebe, "fährt man im Schnitt besser, als wenn man auf Prognosen x-beliebiger Experten vertraut". Zauderer und Aussitzer richten laut Friebe weniger Schaden an als Paniker und Machbarkeitsfanatiker. Sie erzielen zwar oft nicht das maximale Resultat, begehen aber auch keine katastrophalen Fehlentscheidungen.

Wen das an den Politikstil Angela Merkels erinnert, den der Soziologe Ulrich Beck einmal Merkiavellismus genannt hat, der liegt vermutlich nicht ganz falsch: "Merkel steht wie ein Findling allein auf weiter Flur", schreibt Friebe. Der Satz ist keine Kritik, er ist ein Lob: Beim Regieren, so sieht es Friebe, gehe es um Schadensbegrenzung. Bis zu einem gewissen Punkt regiere sich ein gesundes Gemeinwesen ganz gut alleine. "Es geht nicht darum, viel anzuzetteln, sondern weniges Großes zu bewirken." Wer viel anzettelt, schadet einem Gemeinwesen mehr als er ihm nutzt. Egal, was er anzettelt.


Holm Friebe: "Die Stein-Strategie. Von der Kunst, nicht zu handeln". Hanser; 216 Seiten; 14,90 Euro.

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