Neue Taschenbücher »Man nannte uns die Unzertrennlichen«

Simone de Beauvoir 1978 in Rom
Foto: Francois Lochon / Gamma-Rapho / Getty ImagesDieser Artikel gehört zum Angebot von SPIEGEL+. Sie können ihn auch ohne Abonnement lesen, weil er Ihnen geschenkt wurde.
»Identitti« von Mithu Sanyal
Die Professorin für Intercultural Studies und Postkoloniale Theorie Saraswati ist eine Koryphäe. Ihr Name der einer indischen Göttin, sie selbst Inderin. So jedenfalls glauben es alle, bis sich herausstellt, dass sie eigentlich Sarah Vera Thielmann aus Karlsruhe ist und sich ihre Haut hat verdunkeln lassen. Als das auffliegt, geht ein Sturm im akademischen und medialen Wasserglas los, mittendrin Bloggerin und Saraswati-Anhängerin Nivedita. Ihre emotionale und intellektuelle Verwirrung bildet den Rahmen von »Identitti«.
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22.03.2023 12.03 Uhr
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Humorvoller und leichter als Mithu Sanyal kann man die aktuelle Aufgeregtheit um Identitätspolitik, Cancel Culture und dergleichen kaum aufschreiben. Und nebenbei ist bei der Lektüre von Theorien bis zu Begriffen so einiges zu lernen – vor allem, dass Identitäten und Zuschreibungen fluide und oft willkürlich sind. Das Buch sei denen empfohlen, die sich darin gefallen, in immer wieder aufkommenden Debatten schnell ein Urteil zu haben, ohne sich mit Rassismus, Kolonialerbe oder Gendertheorie befasst zu haben. Allen anderen sowieso, weil es Spaß macht.
»Die Unzertrennlichen« von Simone de Beauvoir
»Ich sollte Ihnen diese Geschichte widmen, doch ich weiß, dass Sie nirgends mehr sind, dass mir nur der Kunstgriff der Literatur erlaubt, hier mit Ihnen zu reden.« So lautet die Widmung in dem erst 2020 zum ersten Mal auf Französisch erschienenen kleinen Roman »Die Unzertrennlichen« der Philosophin Simone de Beauvoir.
Es ist die Geschichte einer Mädchenfreundschaft während des Ersten Weltkriegs. Die Hauptfiguren siezen sich, Andrée und Sylvie heißen sie im Roman, Zaza und Simone hießen sie im wirklichen Leben. Sylvie liebt Andrée, verehrt sie und durchläuft Träumerei, Angst, Eifersucht und Sehnsucht. Andrée, wie wohl auch Zaza, lebte in engen familiär-religiösen Zwängen, durfte nicht lieben, wen sie wollte, durfte nie allein sein. Unterdrückt von ihrer Mutter und mit der Aussicht auf eine Heirat oder das Kloster, findet sie keine andere Form des Widerstands, als sich selbst zu verletzen. Sylvie, aus deren Sicht das Buch geschrieben ist, sieht mit Entsetzen, was ihrer geliebten Freundin angetan wird. Und kann nichts dagegen tun.
Die Unzertrennlichen: Der persönlichste Roman der französischen Feministin
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Mit Anfang zwanzig stirbt Zaza an einem unbekannten Leiden. Im Roman ist Andrées Sarg mit weißen Blumen bedeckt. Sylvie (oder Simone) dazu: »Ich begriff, dass Andrée gestorben war, weil all dieses Weiß sie erstickte.«
Beauvoir wird laut Vorwort später viermal versuchen, die Geschichte Zazas literarisch zu fassen. Auch mit dem letzten Versuch war sie nicht zufrieden. Dass es ihn dennoch gibt, ist ein kleines Geschenk.
»Der ehemalige Sohn« von Sasha Filipenko
Nach zehn Jahren erwacht der Musiker Franzisk, und nichts hat sich geändert in der belarussischen Hauptstadt Minsk, »(…) diese(r) Stadt, die schon vor Zisk ins Koma gefallen war«.
Bei einem Massenauflauf in einem U-Bahnhofschacht sterben über 50 Menschen. Die Beschreibung des Unglücks zieht sich über Seiten und ist schwer erträglich. Und auch in vermeintlich unpolitischen Unglücken wie diesem zeigt sich immer, wie Staat und System funktionieren und gewichten: »Die Staatssicherheitsbeamten, die vor Ort eintrafen – sie waren, muss man dazu sagen, schneller da als die Feuerwehr –, retteten wichtige Dokumente und Unterlagen, aber keine Menschen.« Franzisk fällt ins Koma, nur seine Großmutter glaubt daran, dass ihr Enkel eines Tages wieder aufwachen wird.
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Mit bösem Witz und viel Melancholie zeichnet Filipenko die Gesellschaft eines Landes, die seit Jahrzehnten in Unterdrückung und Diktatur lebt. Der Satiriker und Aktivist lebte 2014, als sein Debütroman erschien, in St. Petersburg – in Belarus drohte ihm Gefängnis. Auch Russland musste er mittlerweile verlassen, der PEN International erklärte ihn 2021 zum Opfer der Zensur. Allein deswegen verdient er es, gelesen zu werden. Aber längst nicht nur deswegen.
»Das Geheimnis unserer Herzen« von Marc Levy
Eleanor in London erhält einen anonymen Brief, dessen Verfasser oder Verfasserin insinuiert, dass ihre Mutter auf nicht legale Weise ein Vermögen gemacht habe. Ein Vermögen, von dem Eleanor nicht wusste und dessen Ursprung sie herausfinden solle. Zugleich erhält George in Kanada einen fast identischen Brief, der ihn auffordert herauszufinden, wer sein Vater ist.
Die Suche nach der Vergangenheit der Eltern beginnt. Nach den Menschen, die man erst kennengelernt hat, nachdem sie Eltern geworden sind und als man selbst schon so alt war, um jemanden mit offenen Augen kennenlernen zu können. In den Gesprächen, die Eleanor mit ihrem Vater führt, um etwas über ihre Mutter herauszufinden, geht es schnell um sie selbst, wie sollte es auch nicht. Und sie sind hübsch verworren, wie es solche Gespräche oft sind: »Ich spreche nie über deine Arbeit, weil … weil deine verflixte Arbeit dich von mir entfernt. Möchtest du noch ein Eis?«
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Und sie selbst sagt sich Dinge wie: »Wenn man gesagt bekommt, man habe die Augen seiner Mutter, ihre Mimik und ihr Temperament, bedeutet dies nicht zwangsläufig, dass man ihr gleicht.« Schon klar.
Die Suche in diesem Roman wird selbstverständlich aufregender als bei den allermeisten Menschen im echten Leben, die sich fragen, was für Leute ihre Eltern eigentlich gewesen sind. Und Eleanor und George treffen sich natürlich – in Baltimore.
Jedes der kurzen Kapitel wechselt den Ort der Handlung, bisweilen springt auch die Zeit in die 1980er oder 1940er Jahre. Das Buch ist also wie gemacht fürs Lesen vorm Einschlafen – nicht zu anspruchsvoll, nicht zu spannend, unterhaltsam genug. Und wenige Seiten reichen, um voranzukommen – und dann die Augen zu schließen.