Interview mit Philip Roth "Alter ist ein Massaker"
SPIEGEL: Mr. Roth, Ihr neues Buch "Jedermann" greift den Titel des anonymen allegorischen Theaterstücks "Everyman" aus dem 15. Jahrhundert auf, wie es vor Ihnen schon Hugo von Hofmannsthal mit seinem "Jedermann" getan hat.
Roth: Aber er hat die christliche Perspektive beibehalten. Und das Allegorische. Und die Didaktik. Mein Buch ist weder didaktisch noch allegorisch. Es hat keinerlei christliche Perspektive.
SPIEGEL: Wozu haben Sie diese alte Geschichte gebraucht?
Roth: Das stand nicht am Anfang. Ich hatte zwischendrin mehrere Titel im Kopf. Erst ganz am Schluss fiel mir dieses Stück wieder ein, das ich auf dem College gelesen und später auf der Bühne gesehen hatte. Ich nahm mir das Stück noch einmal vor und dachte: Das ist genau der richtige Titel.
SPIEGEL: Haben Sie mit einer bestimmten Idee angefangen?
Roth: Ja, und zwar das Leben eines Menschen unter dem Gesichtspunkt der Krankheit, der körperlichen Bedrohung zu erzählen und den Rest nur am Rande. Die Geschichte seiner Krankheiten sollte der Erzählfaden sein. Ich habe nach literarischen Vorbildern gesucht. Man glaubt doch, es müsste eine Menge davon geben. Keineswegs. Thomas Manns "Zauberberg", Tolstois "Ein Tag im Leben des Iwan Iljitsch" und die "Krebsstation" von Solschenizyn, ein wunderbares Buch - darüber hinaus kenne ich nur wenig, wo Krankheit zentrales Thema ist.
SPIEGEL: Wovor, glauben Sie, fürchten sich Ihre Kollegen?
Roth: Sie meinen, warum es mehr Bücher über Ehebruch gibt als über Emphysem und Krebs und Diabetes? Ich weiß es nicht. Aber ich würde nicht sagen, dass es mit Furcht zu tun hat. Es ist einfach so, dass wir heutzutage meistens am Leben bleiben, wenn wir krank werden. Wir machen daher weitaus mehr Erfahrung mit Krankheit als die Menschen im 15. Jahrhundert. Wer damals richtig krank wurde, der starb. Und der Tod kam - wie in dem alten Stück - gerade dann, wenn man am wenigsten damit rechnete. Der Tod kommt natürlich auch heute noch unerwartet, aber im großen und ganzen werden Menschen eine ganze Weile am Leben erhalten, bis eine Krankheit sie am Ende tötet. Man ruft seinen Freund an und sagt: Hast du deine Bestrahlung gut überstanden? Oder: Was ist bei der Biopsie rausgekommen?
SPIEGEL: Die Geschichte beginnt recht gemächlich.
Roth: Mit der Beerdigung. Dann kommt die Kindheit, und die frühe Lektion in Sachen Sterblichkeit für ihn, als er im Krankenhaus beobachtet, wie der kleine Junge im Bett neben ihm stirbt.
SPIEGEL: Der Held entwickelt sich zu einer liebenswerten Person.
Roth: Finden Sie? Das sieht nicht jeder so.
SPIEGEL: Ja. Man möchte nicht, dass er am Ende stirbt. Man hat nur noch drei Seiten zu lesen, noch zwei, und man hofft, daß es nicht aufhört, obgleich man den Anfang kennt und weiß, dass er am Ende tot sein wird.
Roth: Interessant, dass Sie ihn nicht sterben lassen wollen.
SPIEGEL: Oder ist es für Sie eine Art Happy-End, weil er nicht leidet?
Roth: Für mich ist es weder ein Happy-End noch das Gegenteil. Mir bereitet das Schicksal des Helden weder Kummer noch Glück. Was ich erfahre, ist ein Gefühl der Zwangsläufigkeit dieses Schicksals. Ich möchte den Leser von Anfang davon in Kenntnis setzen, dass dieser Mensch tot ist und wie sich die Leute an seinem Grab verhalten und was sie dort über ihn sagen. Nachdem das so hingestellt ist, erzähle ich das Leben als Geschichte der körperlichen Krisen und am Ende die Katastrophe.
SPIEGEL: Ich nehme an, der am häufigsten zitierte Satz aus Ihrem Buch wird sein oder ist schon jetzt: "Das Alter ist kein Kampf; das Alter ist ein Massaker."
Roth: Ich sah in den Fernsehnachrichten, wie im überschwemmten New Orleans die Altersheime evakuiert wurden, und ich sagte laut zu der Person, die bei mir war: "Alter ist ein Massaker." Es sah aus, als würde man Leute von einem Schlachtfeld holen. Die Schlacht, die sie geschlagen hatten, war ihr Leben.
SPIEGEL: Das Gesundheitssystem ist nicht nur in den USA ein Problem.
Roth: Wenn man hier eine private Krankenversicherung hat, kostet das viel. Ich bin jetzt bei Medicare, daher zahle ich nichts.
SPIEGEL: Das gilt von einem bestimmten Alter an?
Roth: 65. Und es ist wunderbar. Jeder hat das. Die Demokraten haben dafür gesorgt. Die Republikaner sind immer dagegen gewesen. Sie wollten das immer abschaffen, bis auf den heutigen Tag. Es sind herzlose Menschen, die nur eines interessiert: Profit. Sie wollen nicht, dass jemand Schutz genießt, nicht einmal die Armen. Sehr schlimm. Wir brauchen ein nationales Gesundheitsprogramm, wir müssen Risiko und Geld gerecht verteilen und allen eine medizinische Versorgung bieten.
SPIEGEL: Aber nichts hilft, wie es in Ihrem Buch heißt, gegen die Erkenntnis, "daß man geboren wird um zu leben und statt dessen stirbt".
Roth: Nein, da hilft nichts. Die Leute tun ihr Bestes, um dieses Wissen beiseite zu schieben. Es gibt diejenigen, die den Trost einer Religion haben, die ihnen ein ewiges Leben verspricht. Ich verstehe nicht, wie es ihnen gelingt, das zu glauben. Aber es gibt auch die anderen, die der Gedanke an den Tod quält. Ich erinnere mich an den Lyriker Robert Lowell, der 22 Jahre älter war als ich. Und er hat mir gesagt, es habe, seit er 50 war, nicht einen Tag gegeben, an dem er nicht an den Tod gedacht hat.
SPIEGEL: Aber das ist nicht Ihre Erfahrung?
Roth: Nein, bei mir ist es nur jeder zweite Tag. Aber selbst dann, wenn man nicht daran denkt, wird man ständig damit konfrontiert durch das Verschwinden der alten Freunde und die vielen Besuche im Krankenhaus bei den Kranken und Todkranken. Das alles gab es nicht, als ich jung war. Ich entsinne mich an Gespräche meiner Eltern über ihre Freunde, die krank waren oder im Sterben lagen. Und obwohl ich damals schon über 40 war, habe ich es nicht kapiert. Ich glaube, es gibt eine eingebaute biologische Schutzfunktion, die Menschen unterhalb eines bestimmten Alters davor bewahrt, richtig zu begreifen, daß der Tod die ganze Zeit zuschlägt und alles überwältigt. Selbst als meine Eltern einige ihrer besten Freunde verloren, habe ich zwar zugehört, aber nicht recht begriffen, was zu verlieren sie alles im Begriff waren. Jetzt verstehe ich es.
Das Interview führte Volker Hage