Interview mit Stefan Heym "Wir wollten ehrlich leben"
Seinen Roman "Die Architekten" verfasste Stefan Heym bereits 1964/65, konnte ihn aber nicht veröffentlichen. Es geht darin um die Lebenslügen der "Bauherren" der DDR. Sie werden gleichgesetzt mit Architekten, die nach sowjetischem Vorbild eine Straße des Weltfriedens errichten - analog zur ehemaligen Stalinallee in Ost-Berlin.
Ein weiteres zeitgenössisches DDR-Geschichtsbuch kam zeitgleich von seiner Frau, der Schriftstellerin Inge Heym, auf den Markt. Sie hatte zwischen 1980 und 1982 mehrere Kurzgeschichten verfasst, die sehr pointiert und mit Berliner Mundart den DDR-Alltag reflektierten. Stets mit der Fragestellung "Was ist das bloß für'n Staat, in dem ick lebe?". Auch dieses Buch hatte in der DDR keine Chance. Mit Inge und Stefan Heym sprach SPIEGEL-ONLINE-Redakteur Holger Kulick vor rund einem Jahr in ihrem Haus in Berlin-Grünau, wo beide zu DDR-Zeiten lückenlos von der Stasi überwacht worden waren.
SPIEGEL ONLINE: Frau Heym, Sie haben Ihr Buch "Die Leute aus meiner Straße" einer gewissen "Lulu" gewidmet. Wer ist das?
Inge Heym: Mein Schutzengel. Wenn man durch diese Zeit gekommen ist und durch diese Jahre, dann muss man schon so einen haben.
SPIEGEL ONLINE: Einen Schutzengel, um vor wem beschützt zu werden?
Inge Heym: Zum Beispiel vor der Staatssicherheit. Das war schon sehr ernst, was wir erlebt haben, aber manchmal auch ein bisschen wie ein Spiel. Man musste sich ständig überlegen, was man tut.
SPIEGEL ONLINE: Weil die Stasi versuchte, Keile zwischen Sie zu treiben?
Inge Heym: Das ist in deren Maßnahmeplänen sogar richtig formuliert: "Auseinandermanipulieren der Ehe. Zersetzung der Beziehung". Es war ja nicht so, dass unsere Ehe immer harmonisch war. Wir hatten auch Krisenzeiten und Streitigkeiten. Aber da musste man sich immer wieder überlegen: Wer hätte denn davon profitiert, wenn wir uns getrennt hätten? Dann hätten wir ja gemacht, was die wollten, und die haben das ja auch bei vielen geschafft.
SPIEGEL ONLINE: Hatten Sie geahnt, wie nah die Stasi an Ihre Lebenswege herantrat, Herr Heym?
Stefan Heym: Mein Gott, ganz dicht! Die haben den Schlüssel gehabt zu meinem Schreibtisch, den Schlüssel zu meinem Safe, den Schlüssel zu unserem Haus. Und wenn wir verreist waren und zurückkamen, konnte man sehen und spüren, dass Leute da gewesen waren und sich umgeschaut haben.
Inge Heym: Aber damals hat er das nicht geglaubt, wie dicht die uns an die Haut kamen, dass wir sie praktisch unter der Haut hatten. Gerade Leute, die mir hier im Haus halfen, im Haushalt, die waren von der Stasi angeheuert.
Stefan Heym: Als wir unsere Akten einsehen konnten, zu denen jetzt schon wieder neue Bände dazugekommen sind, waren kartonweise auch Fotos dabei. Die haben alles im Haus fotografiert, jede Tasse im Schrank, jeden Buchrücken und natürlich die Menschen, die hierher kamen oder zu meinem Geburtstagsfest in einem Restaurant. Man lebte in einer ganz merkwürdigen Öffentlichkeit, einer polizeilichen Öffentlichkeit.
SPIEGEL ONLINE: Ihr Roman "Die Architekten" beschreibt sehr nachhaltig, wie sich Menschen in solche Situationen fügen und anfangen, ihr Leben auf Lebenslügen aufzubauen.
Stefan Heym: Das ist das Allerschlimmste. Das haben wir uns geweigert zu tun. Wir wollten ehrlich leben, meine Frau und ich.
SPIEGEL ONLINE: In den "Architekten" sprechen Sie von Menschen "mit eingebautem doppelten Boden" und "Gummigewissen" beziehungsweise "Gewissen mit Superelastizität". Gewissenlosigkeit als Verhängnis der DDR?
Stefan Heym: Ja. Dadurch, dass die Menschen gezwungen waren, etwas vorzugeben, etwa zu lügen, wusste natürlich auch die Regierung nicht, auf wen sie sich verlassen konnte, wer für sie und wer gegen sie war. Und wenn man eine Gesellschaft baut, kann man es nicht mit Menschen tun, die einen belügen. Man muss ehrlich sein. Von oben nach unten.
SPIEGEL ONLINE: Gibt es diese ehrliche Gesellschaft überhaupt?
Stefan Heym: Ich glaube, dass es sie noch nicht gibt. Aber ich glaube, wir müssen irgendwie dafür arbeiten, wenigstens im persönlichen Rahmen, sodass die Menschen miteinander in Liebe und Ehrlichkeit miteinander verkehren.
SPIEGEL ONLINE: In Ihrem Roman ist wiederholt die Rede von "Heuchelei in Stein, Ziegeln und Gips", die errichtet wird. War die DDR auf Heuchelei gebaut?
Stefan Heym: Die Heuchelei ist natürlich die öffentliche Heuchelei und einer der Gründe, warum dieser Staat zu Grunde gegangen ist. Das bezieht sich aber auch auf die Sowjetunion und die sozialistischen Staaten. Dabei war es ursprünglich gewiss nicht die Absicht, ein Gewebe von Lügen zu errichten, sondern eine neue, bessere soziale Ordnung als den Kapitalismus. Aber wie es sich dann herausgestellt hat, hat der Kapitalismus gesiegt und heute leben wir wieder alle darin. Manche leben gut, manche weniger gut. Die ganzen Widersprüche sind wieder da, die es ursprünglich gegeben hat. Und die Widersprüche, die es im so genannten Sozialismus gab, haben sich als sehr erheblich herausgestellt. Sie ließen sich nicht lösen.
SPIEGEL ONLINE: Im Buch setzen Sie die Architekten einer machtvollen Straße des Weltfriedens gleich mit den Architekten des sogenannten Friedensstaats DDR.
Stefan Heym: Ich gehe aber auch der Sache auf den Grund und frage: Woher kommen die Stilmomente, die damals benutzt worden sind, diese Verzierungen, dieser Barock? An einer Stelle erfährt die weibliche Hauptfigur des Buchs, die Architektenfrau Julia, von der Ähnlichkeit der Architektur ihres Gatten mit der Architektur von Hitlers Leibarchitekten, dem Speer. Darüber erschrickt sie zutiefst und kommt ins Grübeln, ob an den ganzen Ideen, die ihr Mann ihr beigebracht hat, vielleicht etwas nicht stimmen könnte - das ist eine der Hauptstellen des Buches und der Entwicklung dieser Menschen.
SPIEGEL ONLINE: Haben die Staats-Architeken der DDR zu viel Fassade vor das eigentliche Leben gesetzt?
Stefan Heym: So könnte man das auch nennen, das haben Sie sehr gut erkannt.
SPIEGEL ONLINE: Dass Sie sich beide zur gleichen Zeit alte Manuskripte über DDR-Geschichte(n) hervorholten...
Inge Heym: ...war wirklich Zufall.
Stefan Heym: War Schicksal! Aber lustig!
SPIEGEL ONLINE: Wobei es in beiden Büchern auf sehr unterschiedlichen Ebenen ähnliche Beobachtungen gibt. In den "Architekten" wird bloßgestellt, wie Nazi-Stilmittel bedenkenlos übernommen wurden. Und in Ihrem Buch, Frau Heym, wird zum Beispiel die Ausweisung Wolf Biermanns von Bürgern kommentiert: "Sowat kann man nicht machen, sowat ham die Nazis jemacht!"
Inge Heym: Ja, so haben die Leute damals in der Mehrheit empfunden: Ausbürgerung - so was gab es doch nur bei den Nazis! Das war ein Argument, das ich damals oft gehört habe. Auch auf Parteiversammlungen trat dann große Hilflosigkeit ein, weil sich die Funktionäre nach den Protesten fragen mussten: Wer gehört jetzt eigentlich noch zu uns?
SPIEGEL ONLINE: War das ein Grundbaufehler der DDR, dass zu viele Bausteine aus der Nazizeit übernommen wurden, auch Charaktere?
Stefan Heym: Das war doch von vornherein das Problem der DDR. Wenn man sich wirklich vornahm, den Sozialismus aufzubauen, mit wem sollte man es denn machen? Man musste doch die Menschen nehmen, die da waren im Lande und diese Menschen waren entweder Nazis gewesen oder hatten den Nationalsozialismus toleriert. Keine anderen Menschen gab es doch. Und denken Sie bloß an die Ähnlichkeiten zwischen den Uniformen der Polizei oder der Armee in der Nazizeit und denen der DDR. Oder an Ähnlichkeiten auf dem Gebiet der Malerei und auch anderswo.
Inge Heym: Ich glaube, dass es da Prägungen gab, die gar nicht bewusst waren. Dass es da Leute gab, die sich mit den Ideen des Sozialismus identifizierten, aber geprägt waren durch die Nazizeit.
Stefan Heym: Kann man ihnen auch nicht übel nehmen. Was sollten Sie denn tun? Man muss nur aufpassen, dass sich das nicht immer weiter fortpflanzt, auch heute und gerade heute. Wenn Sie sich ansehen, was unter vielen jungen Menschen heute passiert, das ist doch ganz schrecklich.
Bitte klicken Sie hier zu Teil 2: "Warum Heyms letzter Roman nicht in der DDR erscheinen konnte"
SPIEGEL ONLINE: Warum konnte "Die Architekten" denn nicht schon 1964/65 erscheinen?
Stefan Heym: Ich wollte das Buch zuerst in englischer Sprache und in England veröffentlichen und dann sehen, ob ich es hier irgendwo unterbringen könnte. Aber ich war dann sehr enttäuscht, als mir mein dortiger Verleger mitteilte, er könne es nicht herausbringen. Ich erfuhr erst später, dass er es seiner Frau zum Lektorieren gegeben hatte, die keinerlei Kenntnisse davon hatte, was hier zu Lande wirklich vor sich ging. Sie hatte nur gesehen, dass dies nicht von vornherein ein Bestseller in England und Amerika sein würde, und hat das ihrem Mann gesagt. Ich habe das damals akzeptiert. Wenn ich damals mit dem Buch herausgekommen wäre, hätte es einen sehr großen Skandal gegeben. Ich hätte dann große Schwierigkeiten gehabt, hier zu Lande zu leben. Ich habe dann so oder so Schwierigkeiten gehabt, aber diese wären ganz schlimm geworden.
SPIEGEL ONLINE: Warum?
Stefan Heym: Wenn Sie das heute lesen und die Charaktere in dem Roman studieren, wird Ihnen klar werden, warum diese DDR so schäbig zusammengebrochen ist, aber auch die Sowjetunion und das ganze östliche Lager. Sie müssen bedenken, es war ein Gegenwartsroman in der Zeit von damals. Er behandelte einen sehr wichtigen Moment in der Geschichte der Deutschen Demokratischen Republik, nämlich die Zeit unmittelbar nach dem 20. Parteitag der Sowjetischen Kommunistischen Partei. Chruschtschow brachte einen Wandel für das ganze politische Leben des östlichen Lagers. Und ich schildere, wie bestimmte Charaktere darauf reagierten.
SPIEGEL ONLINE: Dabei geht es sehr hintergründig auch um Funktionäre, die die DDR aufgebaut haben und sich nicht getraut haben, darüber zu sprechen, wie sie im Exil unter Stalin versagten, weil sie dort zwangsläufig zu Verrätern wurden. So entpuppt sich eine der Hauptfiguren, der Architekt Sundstrom, als der Denunziant der unschuldig verhafteten Eltern von Julia, seiner späteren Frau, er hat sie auf dem Gewissen.
Stefan Heym: Ich habe selber festgestellt, dass diese Leute eine Vergangenheit hatten, die nicht immer edel war, die nicht so war, wie sie sich ursprünglich vorgenommen hatten. Sie saßen also mit ihrer eigenen Vergangenheit fest und konnten nicht weiter - und eigentlich ihren Kindern und den Menschen nicht ins Gesicht blicken. Eine Tragödie! Genau das habe ich darzustellen versucht.
SPIEGEL ONLINE: Hatte die "große Säuberung" unter Stalin auf diese Weise auch in der DDR zu viele kluge Köpfe vertrieben oder ausradiert?
Stefan Heym: Ja, das war eine Zeit, und nicht nur diese Zeit war das, wo jeder, der den Kopf herausstreckte, in Gefahr war, dass der Kopf abgeschlagen wurde. Aber trotzdem glaube ich, dass man, wenn die Zeit kommt, doch seinen Kopf herausstrecken muss, um etwas von Wichtigkeit zu sagen. Man kann sich nicht immer nur verstecken.
SPIEGEL ONLINE: Aber Sie mussten Ihr Buch verstecken. Hatten sie denn versucht, es in der DDR anzubieten?
Stefan Heym: Nein, ich wollte ja, dass es zuerst in England erscheint, sodass ich als Rückhalt wenigstens einen Boden hatte. Das gelang aber nicht und so habe ich es in den Schreibtisch gelegt. Erst jetzt, im letzten Jahr, als ich todkrank war und dann - dank meiner Frau - doch überlebt habe, sagte ich mir: Jetzt musst du das irgendwie herausbringen. Du kannst nicht abtreten, ohne dass Du Dein Werk vollständig vorgelegt hast.
SPIEGEL ONLINE: In dem Roman reden sich die ideologisch geprägten Charaktere gerne heraus: Die objektiven Umstände hätten dies und das erzwungen. Waren es diese Floskeln, die solchen Leuten immer wieder geholfen haben, nicht richtig nachdenken zu müssen?
Stefan Heym: Die Redensart von den 'objektiven Umständen' ist wild verwendet worden als Ausrede dafür, dass man sich eben mit diesen objektiven Umständen nicht auseinander setzt. Aber ich war damals schon der Meinung, dass das keine Ausrede sein könnte, dass man sich damit blendet, sich die Hand vor die Augen hält und sich selber die Finger in die Ohren steckt, wie die drei Affen. Und Sie wissen ja, dass diese drei Affen stumm da saßen, nichts taten und nichts bewegt haben.
SPIEGEL ONLINE: In Ihrem Buch entwerfen der Architekt Tieck und seine spätere Lebensgefährtin Julia ein funktionales Gegenmodell zur stalinistisch geprägten Straße des Weltfriedens. Allerdings hat der Reformer Tieck starke Zweifel: "Kosmopolitismus hat wahrscheinlich keine Chance gegen das, was besteht". Sind Sie Tieck? Oder ist Tieck für Sie der Reformer, der ein sympathischeres Sozialismusmodell verwirklichen wollte?
Stefan Heym: Tieck ist in erster Linie ein Mann, der sich nicht für die Lüge entschieden hat, sondern der seine Meinung und das, was er für richtig hält, ausspricht. Insofern ist er natürlich der sympathischste von allen Architekten, die ich in dem Buch beschrieben habe, und er bekommt am Ende auch die Frau...
SPIEGEL ONLINE: ...während sich der erfolgreichere Kopf im Buch, der Architekt Sundstrom, für seinen angepassten Karrierismus mit dem Satz entschuldigt: "Wir sind alle Gefangene der Zeit, in der wir leben".
Stefan Heym: Aber man kann sich nicht nur dagegen wehren, man muss sich dagegen wehren. Ich wehre mich ja auch gegen viele Dinge, die heute existieren - spreche dagegen, schreibe dagegen und glaube, es ist die Pflicht eines jeden, es auch auszusprechen, wenn er etwas als falsch erkennt. Auch wenn's unbequem ist, wenn es ihn schmerzt oder ökonomisch schadet.
Bitte klicken Sie hier zu Teil 3: "Nie wieder Experimente?"
SPIEGEL ONLINE: Viele widerspenstige Mitstreiter haben Sie aber nicht mehr...
Stefan Heym: Es sind zu wenige, die das tun. Die meisten Leute sind interessiert an äußeren Dingen, dass es ihnen wirtschaftlich und materiell gut geht. Das andere ist ihnen nicht so wichtig. Aber ich bin nun einmal Schriftsteller, und ich glaube, dass auch die Gedanken, die man im Kopf und im Herzen trägt, dass dies im Leben sehr wichtig ist. Wenn man das verrät, dann ist man wirklich kein guter, anständiger Mensch.
SPIEGEL ONLINE: Im Roman wird auch die Frage gestellt: "Wie viele Experimente kannst du dir leisten, ohne beschädigt zu werden?" Hat der Sozialismus zu viel experimentiert und zu viel dabei beschädigt?
Stefan Heym: Das wird die Geschichte erweisen, beziehungsweise hat sie es schon erwiesen. Viele der Experimente, die unternommen wurden, waren falsch. Aber das bedeutet nicht, dass wir nicht experimentieren dürfen. Denken Sie nur an die Gentechnik. Die Risiken, die wir dabei eingehen, kennen wir noch gar nicht, auch nicht die, die sich aus der neuen Ökonomie ergeben. Trotzdem bin ich dafür, Experimente zu wagen, es gibt keinen anderen Weg, die Zukunft aufzubauen.
SPIEGEL ONLINE: Frau Heym, Sie hatten als DEFA-Dramaturgin gearbeitet, bevor Sie Stefan Heym kennen lernten. Ihre Liebe hatte ein Berufsverbot zur Folge. Wie kam es zu Ihren Texten?
Inge Heym: Etwa 1979 wurde unsere Situation zeitweise sehr dramatisch. Nicht nur, weil mein Mann 1979 einen Devisenprozess an den Hals bekam, weil er den "Collin" ohne Genehmigung veröffentlicht hatte. Mein Mann wollte aber hier bleiben, in der DDR. Das konnte ich verstehen, er ist schon einige Male in seinem Leben weggegangen. Und die, die gingen, waren in einer anderen Situation, die waren viel jünger damals. Da hab' ich ihm geholfen, wo es notwendig war, und habe ihm den Rücken freigehalten. Das hat meine ganze Kraft gekostet. Ab und zu bin ich dann zu Freunden in den Prenzlauer Berg und habe Erlebnisse aufgeschrieben.
SPIEGEL ONLINE: Wurde das Schreiben für Sie zeitweise ein Ventil?
Inge Heym: Na klar war das so. Aber auf der anderen Seite war das Leben mit ihm ja auch immer interessant, es war immer was los, immer spannend, gelangweilt hab ich mich nicht: Im Gegenteil, ich hätte es manchmal auch gern ein bisschen ruhiger gehabt.
Stefan Heym: Aber wir haben uns auch geliebt!
Inge Heym: Ja und gestritten.
Stefan Heym: Und gestritten!
SPIEGEL ONLINE: Eine der Figuren, in die Sie sich hineinversetzen, Frau Heym, schüttelt den Kopf: "Ich frage mich, was ist denn das für ein Staat in dem ick hier lebe". Ist die Frage für Sie aktuell geblieben?
Inge Heym: Na, ich weiß ja, wo ich lebe und wo ich damals gelebt habe. Aber natürlich sehe ich, dass sich viele Leute fragen, was ist denn jetzt eigentlich? Und es herrscht auch eine ziemliche Sprachlosigkeit bei denjenigen, die eigentlich etwas anderes erwartet haben, deren Illusionen und Hoffnungen sich nicht erfüllten. Die fragen sich heute tatsächlich wieder: Was ist das für ein Staat, in dem ich lebe?
SPIEGEL ONLINE: Den Konformismus, den Sie, Herr Heym, in "Die Architekten" beschreiben, der die Leute so geprägt hat, wirkt der heute auch noch so, oder ist er ersetzt durch Anderes?
Stefan Heym: Ja, wie viele Menschen, glauben Sie denn, sind überhaupt imstande, neue und originelle Ideen hervorzubringen, das ist ja schon eine Minderheit. Und da passiert es schon sehr oft, dass sie sich nicht durchsetzen können und stattdessen immer wieder eher nachgebaut und nachgeahmt wird, aber nicht nachgedacht.
SPIEGEL ONLINE: Wird es von Ihnen auch noch ein Buch über die Jetztzeit geben, über das, was Sie in der Gegenwart erleben?
Stefan Heym: Ich bin im Augenblick dabei, Material zu sammeln auch für ein neues Buch, das ich hoffentlich noch verwirklichen werde. Aber ich bin ja ein bisschen in die Jahre gekommen, wo man nicht mehr weiß, ob man noch planen kann.
Noch vor wenigen Wochen hatte Stefan Heym SPIEGEL ONLINE versprochen, "vielleicht in zwei, drei Monaten" einen Text über den 11. September und seine Sicht des Afghanistan-Krieg zu schreiben, oder in einem Interview über die Lehren daraus zu reflektieren. Aber er wollte noch warten, weil er sich seiner Meinung noch nicht sicher war, sie wäre aber, so meinte er am Telefon, für viele seiner Freunde "eher unangenehm, weil ich die Amerikaner sehr gut verstehen kann". Leider kam es zu der Begegnung nicht mehr.
Das Gespräch führte Holger Kulick