Interview mit Walter Kempowski "Schröder hat kein Verhältnis zur Wiedervereinigung"

Im Interview mit SPIEGEL ONLINE spricht der Schriftsteller Walter Kempowski über den 3. Oktober in der Politik, den 9. November in der deutschen Literatur und seinen langen, ganz persönlichen Kampf für die Wiedervereinigung.

SPIEGEL ONLINE: Herr Kempowski, der Bundeskanzler hat kürzlich die Verlegung des 3. Oktobers, des Tags der Deutschen Einheit, angeregt, musste aber nach Druck aus seiner eigenen Partei und vor allem von Seiten der Grünen einen Rückzieher machen. Ist die politische Führung dieses Landes geschichtslos?

Kempowski: Man kann den Regierenden nicht verbieten zu denken. Aber ein rasches Gedankenspiel so ohne weiteres in die Öffentlichkeit zu tragen, das ist nicht so ganz das Wahre. Dass Schröder so schlecht beraten war, ist im doppelten Sinne traurig, denn man möchte ja, dass unsere Regierung nicht nur funktionsfähig ist, sondern das Beste für uns will und tut. Und dies war sicherlich das Allerschlechteste. Die würden es auch zustande bringen und Pfingsten mit Ostern zusammenlegen. Von der Ausgießung des Heiligen Geistes zu Pfingsten hat die SPD offenbar sehr wenig mitbekommen.

SPIEGEL ONLINE: Viele aus der Generation Schröder hatten ihre Schwierigkeiten mit der Einheit. Ist das ein Grund, warum er und seine Mitstreiter so leichtfertig den 3. Oktober preisgeben wollten?

Kempowski: Dass Schröder nach 15 Jahren einen solchen Vorschlag macht, zeigt mir, dass er bis heute kein Verhältnis zur Wiedervereinigung gefunden hat.

SPIEGEL ONLINE: Nun steht der 3. Oktober für viele Kritiker für einen Verwaltungsakt. Vielleicht fehlt der emotionale Bezug des 9. Novembers?

Kempowski: Ich habe zum 3. Oktober, ehrlich gesagt, auch keine Bindung. Mir wäre es auch lieber gewesen, wir hätten den 9. November als Feiertag. Es war ein Fehler von Helmut Kohl, das nicht getan zu haben.

SPIEGEL ONLINE: Sie haben an die Einheit immer geglaubt, ihr das Wort auch dann geredet, als Sie dafür diffamiert wurden. Hängt das Unbehagen vieler Intellektueller nicht auch damit zusammen, dass man sich Einheit und Freiheit nicht vorstellen konnte?

Kempowski: Ich habe die Einheit nie aus den Augen verloren. Ein großer Teil meines schriftstellerischen Werkes dreht sich um den Osten, um die Geschichte meiner Familie in Mecklenburg. Dass die Wiedervereinigung eines Tages so schnell kommen würde, damit habe ich aber nie gerechnet. Ich hätte mich notfalls auch mit einer Konföderation zufrieden gegeben, wenn die Menschen in Freiheit leben und sich hätten besuchen können. Durch die Europäische Union sind wir ja mit Österreich nun auch in einem Verbund - so hätte das ja auch mit der DDR passieren können. Aber diese Debatte jetzt nachträglich zu führen, halte ich für überflüssig. Es ist anders gekommen - zum Glück.

SPIEGEL ONLINE: Viele Bürgerrechtler der DDR waren ja für ein Konföderations-Modell und gegen die Einheit.

Kempowski: Ach ja, Frau Bohley und andere. Die haben damals immer so prononciert gegen die Einheit gesprochen. Das hat mich gestört. In Westdeutschland hat mir mal ein Germanistik-Professor gesagt: Erfurt, Weimar? Was soll ich denn damit? Wenn selbst das deutsche Bürgertum kein Verhältnis zur deutschen Einheit mehr hatte, wie sollte ich es denn von Menschen erwarten, die in der DDR saßen und dort ihr Süppchen kochten?

SPIEGEL ONLINE: Aber hatte das Schwinden des Einheitsgedanken im deutschen Bürgertum nicht auch Wurzeln in der Haltung Adenauers, der in den Fünfzigern zwar rhetorisch den Gedanken an die Wiedervereinigung hochgehalten, praktisch aber die Westbindung betrieben hat?

Kempowski: Da ist ja die Frage - was ist besser, der Spatz in der Tasche oder die Taube auf dem Dach? Ich bin ja nun kein Historiker...

SPIEGEL ONLINE: ... aber Sie haben damals gelebt ...

Kempowski: (lacht) Im Gefängnis in Bautzen, wo ich keine Zeitung erhielt. Es war eine unglaubliche Sturheit auf östlicher Seite vorhanden, der man wohl nur eine eigene Sturheit entgegen setzen konnte. Vielleicht muss man es mit einer Landgewinnung beim Deichbau vergleichen - da geht man ja auch nicht auf einmal vor.

SPIEGEL ONLINE: Warum gibt es von Ihnen eigentlich keinen Echolot-Band, eine Zusammenstellung von Tagebuchnotizen, Erinnerungen von Bürgern aus Deutschland und der Welt zu jenem geschichtsträchtigen 9. November?

Kempowski: Sie werden sich wundern - ich habe eine Sammlung von über tausend Statements zur Deutschen Einheit in meinem Computer. Die werde ich sicherlich auch noch veröffentlichen - wie auch eine Sammlung von Statements über das Urlaubmachen.

SPIEGEL ONLINE: Warum haben Sie sich gerade das Reisen als Thema ausgesucht?

Kempowski: Nun, weil der Urlaub die große Flucht der Deutschen ist. Eine solche ungeheuerliche Bewegung hat es ja noch nie gegeben, die Kimbern und Teutonen haben so etwas vorgemacht, zu Urzeiten. Ich frage mich, warum der Eichel noch nicht auf die Idee gekommen ist, Auslandsreisen zu besteuern. Das wäre einträglicher als die Streichung eines Feiertages.

SPIEGEL ONLINE: Das wäre ja eine Art "DDR light".

Kempowski: Aber warum denn? Man könnte doch Flugscheine besteuern. Na ja, aber man weiß, warum solche Ideen nicht verfolgt werden. Schließlich will auch Eichel wieder gewählt werden.

SPIEGEL ONLINE: Der 9. November ist in der deutschen Literatur kaum präsent. Viele Romane enden an diesem Tag - auch ihr kürzlich erschienener Roman "Letzte Grüße", in dem der Held am Tag des Mauerfalls stirbt. Warum diese Scheu, die Tage nach der Öffnung der Grenze zu beschreiben?

Kempowski: Es ist die Aktenscheiße, mit der sich keiner befassen will. Nach dem herrlichen Ereignis will sich keiner mit der Paragrafenschinderei beschäftigen.

SPIEGEL ONLINE: Wäre das nicht ein spannendes Thema, weil es dabei auch unweigerlich um den Frust zwischen Ost und West geht?

Kempowski: Die Generation, die jetzt dran ist, überspringt dieses Thema leider. Sie ist ja auch im Grunde genommen arm dran, weil sie nicht den Krieg erlebt hat, dieses unerschöpfliche Bergwerk, wovon sich eine ganze Generation von Schriftstellern in der Welt ernährt hat. Jetzt wird von den Jüngeren hierzulande fleißig Nostalgisches über die Zeit in der DDR veröffentlicht. Darin ist dann oft zu lesen, es sei gar nicht so schlimm gewesen. Jetzt geht die ganze Laberei wieder los - ich kann es kaum ertragen.

SPIEGEL ONLINE: Sie glauben, dass es in Filmen und Büchern über die DDR eine Tendenz zur Schönfärberei gibt?

Kempowski: Ja. Ein schlechtes Erinnerungsvermögen hat die Deutschen schon immer ausgezeichnet. Nehmen Sie doch nur das Kriegsende 1945 und gehen Sie dann 15 Jahre weiter. Dann sind sie im Jahr 1960 - wie da über die Nazi-Zeit geredet wurde! Das Winterhilfswerk, hieß es damals etwa, sei ja doch eine gute Sache gewesen. Da wurde vieles weggedrängt und vergessen.

SPIEGEL ONLINE: Wie tief der Graben ist, zeigt ein anderes Beispiel. Der ostdeutsche Schriftsteller Christoph Hein wurde kürzlich zum Intendanten des Deutschen Theaters in Berlin auserkoren. Hein selbst hat auf die Kritik in westdeutschen Feuilletons mit dem Satz reagiert: "Sämtliche öffentlich-rechtlichen Anstalten in Ostdeutschland werden von Westlern geleitet. Das ist normal, aber sobald ein Neger Intendant wird, ist ein großer Aufstand da. Das ist Apartheid."

Kempowski: Zum Glück hat der jetzige Intendant Bernd Wilms im SPIEGEL darauf geantwortet. Wer sieht denn einen einzigen DDR-Bewohner als Neger an? Wie kommt Hein überhaupt dazu, dieses Wort zu benutzen? Er projiziert das, der kennt Westdeutschland doch gar nicht.

SPIEGEL ONLINE: Wie reagieren Sie, wenn Ihnen die DDR in fröhlichen Farben geschildert wird?

Kempowski: Ich lasse die Leute reden und erzähle ihnen dann, dass wir in Bautzen täglich 400 Gramm Brot und zwei Mal einen halben Liter Wassersuppe zugeteilt bekamen. Das ist im Grunde ganz einfach - dann sind sie meistens gleich ganz still.

SPIEGEL ONLINE: Ist die Einheit letztlich eine Illusion?

Kempowski: Nein. Aber die Einheit, wie sie es sich manche vorstellen, hat es so doch nie in Deutschland gegeben. Nehmen Sie nur Bayern und Norddeutsche - die nennen uns Preußen, dabei haben die Mecklenburger mehr unter den Preußen gelitten als der Süden. Oder der Zerfall des Landes in diese zwei großen politischen Blöcke, CDU/CSU und SPD. Wo gibt es da die Einheit? Und in der DDR - da gab es die Sachsen, die damals vom Rest der DDR als fünfte Besatzungsmacht bezeichnet wurden. Auch in anderen Ländern gibt es diese Teilung. In Kanada habe ich im Fahrstuhl mal Kanadier auf Englisch nach dem Speisesaal gefragt - da wurde ich sehr bestimmt darauf hingewiesen, dass sie nur Französisch sprechen. Oder die Elsässer, die noch heute nicht von vielen Franzosen als vollwertige Landsleute anerkannt werden. Wieso soll das in Deutschland anders laufen? Gemessen an anderen Ländern geht es doch bei uns ganz gut.

SPIEGEL ONLINE: Sie haben in Ihrem Tagebuch "Alkor" von den Westintellektuellen geschrieben, die 1989 entsetzt reagierten, wenn sie von Ihrem Wunsch nach Einheit sprachen. Ist das ein Generationenproblem geblieben?

Kempowski: Das betrifft die mittlere Generation - hier wie im Osten. Die sind bestraft. Die jüngere Generation interessiert das gar nicht - soweit ich das beobachten kann. Aber jene, die durch die 68er-Zeit beeinflusst worden sind, haben bis heute ihre Schwierigkeiten mit der Einheit.

SPIEGEL ONLINE: Hat der 9. November nicht auch eine neue Sicht auf ihr Werk eröffnet? Auch unter den Linken und jenen, die durch 1968 beeinflusst wurden? Die linksalternative "taz" lobte Sie kürzlich überschwänglich.

Kempowski: Der 9. November hat vielen Intellektuellen ihre schönen Illusionen und Visionen vom Sozialismus weggeblasen. Noch Tage vor dem Mauerfall haben diese Leute ganz anders geredet, haben kaum mit Dissidenten im Osten gesprochen, diese Menschen weitestgehend ignoriert. Wenn es nach ihnen gegangen wäre, hätte es nie eine Wiedervereinigung gegeben. Nehmen Sie nur mein Buch "Im Block" über die Zeit im DDR-Gefängnis ...

SPIEGEL ONLINE: Das jetzt wiederaufgelegt wurde ...

Kempowski: ... als das 1969 herauskam, mitten zur Zeit der Studentenunruhen, hat das Thema niemanden interessiert. Ganze 700 Exemplare sind davon verkauft worden. Heute sagen alle: Ach, ihr erstes Buch war doch das Schönste.

SPIEGEL ONLINE: Eigentlich müssten Sie doch zufrieden sein - Sie haben Recht behalten.

Kempowski: Es gibt nichts Schlimmeres, als Recht zu behalten.

SPIEGEL ONLINE: Im kommenden Jahr wird zum 60. Mal der Bombardierung Dresdens gedacht. Hätten Sie einen Ratschlag an die Politik, wie dieser Tag begangen werden soll?

Kempowski: Ich will Ihnen etwas gestehen. Ich war für den Wiederaufbau der Frauenkirche. Jetzt, wo sie wieder steht, beschleicht mich doch ein eigentümliches Gefühl: Es ist eine Lüge. Die Toten kann man nicht wieder lebendig machen. Im Grunde ist es doch so - der Berg unserer Schuld, die wir im Nationalsozialismus auf uns geladen haben, ist nicht zu verringern. Nicht durch Monumente wie das Holocaust-Mahnmal in Berlin, nicht durch den Wiederaufbau von Gebäuden.

Das Interview führten Claus Christian Malzahn und Severin Weiland

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