Javier Marías Der unentschlossene Erzähler
Javier Marías studierte Literatur und Philosophie und arbeitete zunächst als Übersetzer für englische Literatur des 19. Jahrhunderts. Bereits mit 20 Jahren hat er seinen ersten Roman veröffentlicht. Anfang der neunziger Jahre wurde Marías in Spanien bekannt, dann wurde er auch in Deutschland entdeckt und für "Mein Herz so weiß" im Literarischen Quartett hoch gelobt. Inzwischen hat der Spanier neun Romane und drei Erzählbände publiziert. Sein neues Buch trägt den Titel "Schwarzer Rücken der Zeit".
Er sei kein guter Beobachter, sagt Marías über sich, eher "abwesend". Er könne nach einer Begegnung nie beschreiben, wie die Hände von jemandem ausgesehen hätten und was für Schmuck er getragen hätte. Erst später, beim Schreiben, fielen ihm dann Erlebnisse wieder ein. "Wenn du schreibst, benutzt du Bilder, die du einmal gesehen hast. Aber das kommt beim Schreiben. Ich bin nie in einer Situation, in der ich mir konkret überlege, wie ich das Geschehen verwende. Ein solches Leben wäre mir auch viel zu traurig", erklärt der Autor.
Marías' Romane zerfallen in einzelne Geschichten, die sich überlagern, in Details verlieren und manchmal auch scheinbar zusammenhanglos nebeneinander stehen. "Abschweifend" lautete der Vorwurf, der seinem 1991 erschienenen Buch "Alle Seelen" oft gemacht wurde. Zu diesem Campusroman hat Marías mit "Schwarzer Rücken der Zeit" eine Art Werkstattbericht verfasst - und der besteht nur aus Abschweifungen. Marías zu seiner Rolle als Erzähler: "Wenn zwei Menschen sich begegnen, erzählen sie sich Geschichten. Sie reden davon, wie es in ihrem Beruf geht, dass der Ehepartner unerträglich ist oder ähnliches. Wir erzählen unser Leben ständig, während wir es leben. Es gibt keinen Erzähler, der ordnet. Das ist die Stimme der Zeit. Diese Stimme, die wir hören, hat immer eine fiktive Dimension. Vielleicht ist es diesmal meine."
Der Madrider entwirft seine Geschichten nicht am Reißbrett, sondern schreibt oft ins Blaue hinein. "Ich glaube, wenn ich von meiner Geschichte schon vorher alles wüsste, würde ich kein Buch schreiben - es wäre mir zu langweilig", so der 48-Jährige. "Mir bereitet es Vergnügen zu erzählen. Ich wollte nicht einen normalen Roman mit Plot, Anfang und Ende schreiben. Die meisten Leser deuten aus Trägheit alles auf das Ende hin. Wenn man schreibt, ist man ohnehin gezwungen, zu entscheiden, was man zuerst erzählen will, und das Geschehen zu ordnen. Das Format des Romans hätte mir jedoch die Freiheit genommen, Geschichten nebeneinander vor sich gehen zu lassen. Die Dinge geschehen im Leben auch ungeordnet, man weiß nicht, was kommt."
In Marías' neuestem Werk vergnügt sich der Autor an der Wahrheit über die Fiktion. Er lässt alle Figuren aus "Alle Seelen" wieder aufleben, um zu zeigen, was wirklich war. Er gibt Einblick, welche Professoren und Studenten der Uni Oxford erdichtet waren und welche Begebenheiten real sind. "Seine Autobiografie macht er zum Spannendsten seiner Romane", schrieben spanische Feuilletonisten. Tatsächlich ist die Erzählung in weiten Teilen authentisch. Marías: "Es ist ein falscher Roman. Der Erzähler bin ich selbst - oder wenigstens jemand, der meinen Namen trägt. Und die Geschichte ist nicht-fiktional wie in einem normalen Roman - ich beziehe mich auf meine eigene Familie. Doch jedes Leben, das erzählt wird, wird durch die Tatsache des Erzählens zur Dichtung." Die einzig ersponnene Begegnung sei die Farce zwischen einem englischen Söldner und Franco, erklärt Marías, aber auch die könne genauso gut wahr sein. Unsicherheit zu wecken zwischen Realität und Dichtung ist eine von Marías' Spezialitäten. "Man kann heute per Computer errechnen, welches Wort das am meisten benutzte in einem Buch ist. Bei mir ist es das Wort "vielleicht". Das hat mich nicht gewundert. Falls ich je ein Buch über mich selbst schreiben sollte, trüge es den Titel "Javier Marías in Unentschlossenheit"."
Javier Marías: "Schwarzer Rücken der Zeit". Aus dem Spanischen von Elke Wehr. Klett-Cotta-Verlag, Stuttgart; 350 Seiten; 39,80 Mark.