Jenny Erpenbeck Geschichten aus der Dunkelheit
"Das Zimmer, in das er mich gebracht hat, ist mit dicken Teppichen ausgelegt, wenn ich laufen könnte, man würde es nicht hören." Die Erzählerin kann nicht gehen, sie liegt bewegungsunfähig in einem Bett, in der Wohnung ihres Liebhabers und dessen Frau. Der Leser weiß nicht, wie sie an diesen Ort gekommen ist und wie lange sie sich schon dort befindet. Ganz zu Beginn der Geschichte steht nur die lakonische Feststellung: "Gestern hat er mir mit seiner Zigarette die Fußsohlen verbrannt." Dabei bleibt es, es gibt kein Warum, keine Erklärung, der Leser bleibt verstört zurück und muss seine eigenen Schlüsse ziehen.
Jenny Erpenbeck greift immer nur einen Moment Lebenszeit heraus in ihrem Erzählband "Tand". Es gibt keine Vorgeschichte und kein Ende - die Geschichten entstehen aus dem Dunkeln und enden im Nichts. Die Details muss der Leser sich selbst dazu denken, erfinden, mit eigenen Erfahrungen ergänzen. Das ist es, was die Erzählkunst der 34-jährigen Ostberlinerin auszeichnet: Sie schafft es, auf nur wenigen Seiten eine komplexe Geschichte zu erzählen, die sich im Kopf des Leser immer weiterentwickelt. Erpenbecks Geschichten sind Inszenierungen, sie beginnen still und enden mit einem Paukenschlag oder sie reißen den Leser stürmisch ins Geschehen und spülen ihn danach wieder sanft ans Land. Vielleicht leitet sich der Sinfonie-Charakter der Erzählungen aus ihren Erfahrungen als Regisseurin ab. Bevor Erpenbeck durch ihr Debüt "Die Geschichte vom Alten Kind" (1999) bekannt wurde, inszenierte die gelernte Opernregisseurin mehrere Musicals und Opern in Deutschland und Österreich.
Die Frauen in Erpenbecks Geschichten sind Verlorene im Strom ihres Lebens. Da ist die 30-jährige Jungfrau, die es nach dem Tod ihrer Eltern als "Vermächtnis" auffasst, "ihre Jungfräulichkeit Jahr um Jahr weiter zu steigern, indem sie die Zeit vergehen ließ, ohne an ihrem Leben etwas zu ändern...". Oder das Mädchen, das seine Geschichte mit den Worten beginnt: "Dass ich tot sein würde, war mir immer gewiss."
Erpenbeck, die in der DDR in einer Künstlerfamilie aufwuchs, habe mit der Auflösung ihrer Heimat gleichzeitig eine Art Vernichtung der eigenen Biografie erlebt, urteilten Kritiker. "Man hat gelernt, sich innerhalb dieses Systems zu bewegen", hatte die Schriftstellerin einmal selbst gesagt, "und wenn man sich dann plötzlich von einem Tag auf den anderen in einem anderen System befindet, ist das natürlich ein extremer Bruch, weil man alles ändern muss: Das Denken, das Verhalten, seinen Lebenslauf. Man fängt sozusagen aus dem Schwarzen an."
Doch es wäre zu einfach, den Weltschmerz und die Melancholie, der aus ihren Erzählungen spricht, allein auf einen geschichtlichen Bruch zu schieben. Denn zuallererst geht es in Erpenbecks Geschichten um menschliche Brüche, um Familiengeheimnisse, um Lebenslügen und um das Ausbrechenwollen aus einer zugedachten Rolle. Ob es das Auftauchen des unehelichen Halbbruders ist oder der Besuch der alten Kainbacher Maria bei der Frau, neben der sie vor 50 Jahren im Krankenhaus ihr Kind zur Welt gebracht hat - stets steht die Suche nach der eigenen Lebensgeschichte im Vordergrund. Und diese Lebensgeschichte, das wird klar, ist nicht zu lösen von der Geschichte der Menschen, die einen begleiten.
Deshalb steht auch die Familie meist im Mittelpunkt der Erzählungen. Die Erzählung "Sibirien", für die Erpenbeck beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt mit dem "Preis der Jury" ausgezeichnet wurde, beschreibt, wie die Großmutter der Ich-Erzählerin nach ihrer Rückkehr aus der sibirischen Gefangenschaft die neue Freundin des Vaters "an den schwarzen Haaren gepackt" und "aus dem Haus geschleift" hat. Auch in "Tand" tritt eine Großmutter auf. Die Titelgeschichte erzählt vom langsamen Sterben der Frau, die Sprechmeisterin an einem Theater ist. Nach und nach bringt sie ihrer Enkelin die Kunst des Sprechens bei. Nachdem diese ihren ersten Auftritt gefeiert hat, beschließt die Großmutter, nie wieder selbst aufzutreten. Die Alte übergibt der Jungen ihr Talent und damit gleichzeitig ihr Leben.
"Tand" ist eine beeindruckende Sammlung von Lebenseinblicken. Es ist ein Buch, das man genießt. Es ohne Pause durchzulesen wäre Verschwendung. Vielmehr sollte man nach jeder Episode innehalten, um das Gelesene zu kosten, denn der Geschmack dieser Geschichten lässt sich nicht auf Anhieb bestimmen. Ein wenig bitter vielleicht, mit der schwere Süße der Melancholie.
Jenny Erpenbeck: "Tand". Eichborn Verlag, Frankfurt/Main, 116 Seiten; 32 Mark, ab 1.1.2002 16,36 Euro.