"Untitled" von Joachim Bessing Die gefährlichste Droge heißt Liebe

Liebe als übersexuelle Erfahrung: In Joachim Bessings Roman "Untitled" ist der Erzähler eine moderne Werther-Gestalt auf hardcore-romantischem Trip. Und das in einer Welt, in der wir Intimität eigentlich nur noch als pornografisch begreifen.
Von Thomas Andre
Roman-Schauplatz Fashion Week: Hochamt der Styles

Roman-Schauplatz Fashion Week: Hochamt der Styles

Foto: CHARLES PLATIAU/ REUTERS

Die Fashion Week in New York, Feier des Äußeren, Hochamt der Styles: Kann man hier seinen Idealen abschwören? Ja - wenn man zum ersten Mal in seinem Leben verliebt ist. So wie der Erzähler in Joachim Bessings erstaunlichem, hemmungslosem Liebesroman "Untitled".

Hier ist der Erzähler ein Mode- und Stiljournalist, der sich zunächst noch recht gut auf die feinen Unterschiede versteht. Doch dann tritt sie in sein Leben: Julia, Philosophin. So wird sie zumindest eingeführt. Aber ihr Beruf ist nicht weiter wichtig, sie ist eine Projektionsfläche - es ist beinahe nur der Erzähler, der spricht und rückhaltlos offen sein Seelenleben ausbreitet.

In einer Berliner Feiernacht (im "Kronengrill") geht es später in eine Privatwohnung und dort direkt vors Buchregal: tiefe Blicke vor einem Band des antiken Denkers Plotin. Dann neckische Zahnpastaspiele im Bad ("Es war der beste Kuss, den ich jemals bekommen habe. Es war nämlich, als würde ich mich selbst küssen") und anschließend ganz viele Nachrichten via iPhone, denn oft sehen sich die Liebenden nicht. Irgendwann lebt sie sogar in Australien.

Unfall und Lebensgefahr

Sie ist verheiratet, nicht willens, sich von ihrem Mann zu trennen, und der Erzähler ist eine moderne und pathetische Werther-Gestalt, die im Liebeskummer badet und hyperempfindsam durch den Alltag taumelt: "Und nie waren die Begegnungen ausreichend, niemals genügte die Intensität, so dass ich, kaum dass wir uns eben gesehen hatten, schon wieder an die Nadel mit ihrem Herzblut musste."

Aus ihm wird "ein Sozialfall aus Liebe", der ständig heult und auch sonst die Unbedingtheit eines Teenagers an den Tag legt. Er geht zu einer Therapeutin, damit er sein Gleichgewicht nicht vollständig verliert. "Untitled" ist, nicht nur unter den Vorzeichen der modernen Kommunikation, ein Roman der entkörperlichten Liebe. Diese ist bei Bessing eine religiöse, übersexuelle Erfahrung. Sein Held muss auf seinem hardcore-romantischen Trip zwischen London, Sidney, Paris und Berlin immer hungern, zu viel koksen, er ist ein Fleischloser in einer Welt, die wir in amouröser Hinsicht eigentlich nur noch als pornografische wahrnehmen.

Dass der Romanheld seinen Job verliert, ficht ihn nicht weiter an, als melancholischer Ritter von der traurigen Liebesgestalt ist seine neue wirkliche Droge die Liebe. Die alte Sphäre der teuren Kleider und edlen Düfte, die er als Modeschreiber einst befeuert hatte, ist öde geworden. Wie seine Hauptfigur war der Autor Joachim Bessing, Jahrgang 1971, Journalist im Stilressort einer großen deutschen Zeitung. Er verabschiedet sich mit "Untitled" endgültig von der von Oberflächenphänomenen geprägten Konsumwelt, die er 2001 mit der snobistischen Zeitgeist-Performance "Tristesse Royale" durchdekliniert hatte.

Damals diskutierte Bessing unter anderem mit Christian Kracht über Markenartikel, Langeweile, Lifestyle und überzeugtes politisches Desinteresse. Kracht, der in seinem Generationenroman "Faserland" den Selbstekel gleich neben die Lust an der dekadenten Distinktion gesellte, schreibt mittlerweile süffig erzählte, historische Abenteuerromane. Bessing dagegen lässt nicht vom Hier und Heute, "Untitled" ist auch eine Vermessung der Pop-Gegenwart mit Bezügen zu Rainald Goetz, Cat Power und Alexander McQueen.

Und am Ende sind wir, wie schon bei Leipzig-Gewinner David Wagner, im Krankenhaus. Der Unfall und die Lebensgefahr sind die physische Vollendung der emotionalen Kaputtheit des Helden, der eine der einprägsamsten Figuren dieser literarischen Saison ist.

"Wann ist es noch Liebe, wann wird es Wahn?", fragt er sich einmal, dann tippt er die nächste iPhone-Nachricht.

Zuletzt auf SPIEGEL ONLINE rezensiert: Christos Ikonomous "Warte nur, es passiert schon was" , Jérôme Ferraris "Predigt auf den Untergang Roms", Torsten Schulz' "Nilowsky", Mo Yans "Frösche", Ernst-Wilhelm Händlers "Der Überlebende", David Wagners "Leben" und Dave Eggers' "Ein Hologramm für den König".

Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren