John le Carrés letzter Roman Wenn Spione melancholisch werden

Autor le Carré (2017): Angenehme Verlässlichkeit
Foto: Christian Charisius / picture alliance / dpaDieser Artikel gehört zum Angebot von SPIEGEL+. Sie können ihn auch ohne Abonnement lesen, weil er Ihnen geschenkt wurde.
Bei John le Carrés »Silverview« handelt es sich streng genommen nicht um einen neuen Roman. Geschrieben hatte ihn le Carré schon vor rund zehn Jahren und seitdem wieder und wieder überarbeitet. Und doch konnte er sich nicht entschließen, ihn zu veröffentlichen – eine Aufgabe, die er seinem Sohn überließ, der nach dem Tod le Carrés im Dezember 2020 das fertige Manuskript mit »dezentem Pinselstrich« fertigstellte. Das zumindest schreibt Nicholas Cornwell, der seine Romane – wie sein Vater zuvor – unter Pseudonym veröffentlicht und sich als Schriftsteller wahlweise Nick Harkaway oder Aidan Truhen nennt, in einem erhellenden Nachwort, das in einer limitierten Auflage des englischen Originals enthalten ist.
Diese Genese mag erklären, warum »Silverview« so sanft wirkt, gerade im Vergleich zu »Federball«, dem letzten zu Lebzeiten des Autors erschienenen Roman, einer zornigen Abrechnung mit Brexit und Trump und vielem, was sonst noch falsch läuft in der Welt. Le Carré selbst war gegen Ende seines Lebens alles andere als altersmilde. Er wütete und demonstrierte gegen den Brexit, und bei einem Auftritt in der Hamburger Elbphilharmonie hielt er 2017 einen bewegenden Vortrag, in dem er unter anderem sagte: »Dank Brexit habe ich mich in meinem Land noch nie so fremd gefühlt.« Le Carré zog die Konsequenzen: Er nahm die irische Staatsbürgerschaft an – der bedeutendste und britischste unter Großbritanniens Thrillerautoren starb als Ire. Ein finales »Fuck you very much«, um einen Romantitel seines Sohns zu zitieren.
Viele Motive, die aus den 25 innerhalb von sechs Jahrzehnten veröffentlichten Romanen bekannt sind, tauchen auch in »Silverview« wieder auf; le Carré zu lesen, bringt eine angenehme Verlässlichkeit mit sich, ohne dass er lediglich bekannte Muster wiederholen würde – le Carré war auch ein Meister der Variation.
Wir treffen auf einen mehr oder weniger naiven Helden, der nicht so recht weiß, wie ihm geschieht, und der in etwas verwickelt wird, das er nicht durchdringt. Im vorliegenden Roman ein Ränkespiel alternder Agenten, denen eigentlich bewusst ist, dass ihre Zeit längst abgelaufen ist. Auch eine schräge Vaterfigur findet sich in »Silverview«, ein weiterer Wiedergänger von le Carrés eigenem Vater, einem Hochstapler, den er in einem seiner besten, auf jeden Fall aber seinem persönlichsten Roman »Ein blendender Spion« verewigt hatte. Ebenfalls wieder da sind die typischen le Carréschen Leitgedanken: Wann wird Verrat zu einem Akt der Loyalität, wann eine Lüge zur Wahrheit und woher schöpfen wir Zuversicht in einer an sich hoffnungslosen Welt?
Der naive Held, das ist in »Silverview« Julian Lawndsley. Der 33-Jährige hat es, wie es eine Romanfigur formuliert, »in der City zu etwas gebracht«, was heißt, er hat an der Londoner Börse ein Vermögen verdient. Vor Kurzem begann er ein neues Leben als Buchhändler in East Anglia an der ostenglischen Küste.
Und das, obwohl er über keine nennenswerte literarische Bildung verfügt, etwa noch nie von dem Schriftsteller W. G. Sebald gehört hat und den US-amerikanischen Linguistikpapst Noam Chomsky für »noch so einen unbekannten Polen« hält. Warum ausgerechnet dieser Julian eine Buchhandlung führen will, gehört zu den Geheimnissen, die le Carré nicht preisgibt.
Julians Leben ändert sich ein weiteres Mal, als Edward »Teddy« Avon seinen Laden betritt und ihm eine Partnerschaft anbietet; er möchte im Keller unter dem hochtrabenden Namen »Literarische Republik« eine Art Lesezirkel eröffnen. Bald stellt sich jedoch heraus, dass Avon kein wunderlicher Landadliger ist, der jetzt auch angesichts des nahen Todes seiner schwer krebskranken Frau Deborah verzweifelt ein Hobby braucht, sondern ein in Polen geborener ehemaliger Topagent des britischen Geheimdienstes, der vielleicht zum Verräter geworden ist.
Das vermutet ausgerechnet Deborah, die ihrerseits nicht nur die reiche Erbin und Wohltäterin war, als die man sie im Ort kennt, sondern eine Topanalystin in einer auf den Nahen Osten spezialisierten Abteilung des Geheimdienstes. Sie schlägt Alarm – und schon beginnt es aufs Neue, dieses wundervoll doppelbödige Spiel der Spione, das le Carré so meisterlich beherrschte wie kein anderer.
Reine Freude über die Dialoge
Ein wenig kann man le Carrés Zögern nachvollziehen, diesen Roman zu veröffentlichen, er ist alles andere als perfekt, wirkt passagenweise unfertig, fast schon skizzenhaft, manchen Figuren fehlt es an Motivation, anderen an Background, einige Handlungsstränge führen nirgendwo hin. Andererseits ist es natürlich ein Glück, dass es »Silverview« gibt. Langjährige le-Carré-Leser werden ihren Spaß daran habe, die altbekannten Muster wieder einmal völlig neu zusammengestrickt zu sehen, und für Novizen bietet der Roman einen leichtgängigen und mit nur 250 luftig gesetzten Seiten auch weit unterdurchschnittlich langen Einstieg in die Welt der Spionage, wie John le Carré sie sah.
Vor allem ist es natürlich die reine Freude, ein weiteres Mal diese ausgesprochen britischen Dialoge zu lesen – eigentlich fast schon zu hören –, die so nur le Carré schreiben konnte und die Peter Torberg mit einem feinen Ohr für all die Nuancen, Doppeldeutigkeiten und gelegentlichen Drohungen, die sich hinter den Höflichkeiten und scheinbaren Harmlosigkeiten verbergen, ins Deutsche übertragen hat.
»Silverview« ist eines dieser Bücher, im Genre des Spionagethrillers nicht selten, bei denen der Leser das Gefühl nicht abschütteln kann, ihm entgehe etwas. Als würde sich ihm die wahre Bedeutung des Geschilderten entziehen, was zu einem Interpretationsüberschuss führen, aber wiederum gerade den Reiz der Lektüre ausmachen kann: der Leser, der ähnlich wie ein Spion oder ein Detektiv erst durch die Bewertung und Kontextualisierung der Fakten einen Sinn schafft, der de facto gar nicht vorhanden sein mag.
Eben alles nur ein »Spy Game«, wie Tony Scott 2001 seinen stark von le Carré geprägten Kino-Thriller nannte, ein Spiel um Grenzen und Grenzüberschreitungen, um Loyalität und Übervorteilung und wie jedes Spiel letztlich ohne große Wirkung – was hat George Smiley, le Carrés größte literarische Schöpfung, wirklich davon, dass er am Ende von »Agent in eigener Sache« seine Nemesis Karla, den russischen Meisterspion, endlich gefangen genommen hat? Vielleicht nicht einmal nachhaltige persönliche Genugtuung.
Oder, wie es ein alt gewordener Agent in »Silverview« in einem melancholischen Moment formuliert: »Wir haben nicht viel erreicht, um den Lauf der Geschichte zu verändern, oder? So von einem Spion zum anderen würde ich schätzen, ich wäre als Leiter eines Jugendklubs nützlicher gewesen.«
Die Schwachpunkte und Fehler und Verfehlungen der – nicht nur – britischen Geheimdienste waren schon immer der Treibstoff von le Carrés Romanen. Dass er diesen Institutionen aber so deutlich ihre Sinnhaftigkeit abspricht, ist eine späte Entwicklung im Werk des Autors und macht aus »Silverview« fast schon einen Solitär.