
Exoten-Bonus: Jón Gnarr, Marina Weisband und Richard David Precht
Gipfel der Polit-Exoten Viel Stil, zu wenig Zweck und Ziel
Erleben wir heute ein neues 1968? Das war eine der Fragen, als sich am Montagabend im Hamburger Körber-Forum ein Bürgermeister, eine ehemalige Parteifunktionärin und ein Bestsellerautor trafen. Unter dem Motto "Wir sind Demokratie" waren Jón Gnarr, der Bürgermeister von Reykjavík, Marina Weisband, die frühere politische Geschäftsführerin der Piratenpartei, und Richard David Precht, der populäre Philosoph, zusammengekommen. Anlass für die Diskussionsrunde waren nicht zuletzt die Bücher, die Gnarr und Weisband geschrieben haben: Marina Weisband erzählt in "Wir nennen es Politik", wie sie, das kränkliche Kind osteuropäischer Flüchtlinge, zu einer der wenigen visionären Stimmen in der deutschen Politik wurde. Und Jón Gnarr beschreibt in "Hören Sie gut zu und wiederholen Sie!!!", wie er, der schwererziehbare Jugendliche, erst als Komiker und dann als Bürgermeister seine Mitmenschen zum Staunen brachte.
Moderiert wurden die drei von Annette Brüggemann, die zwar als Journalistin angekündigt worden war, auf ihrer Webseite aber auch als Managerin von Richard David Precht firmiert. Kritische Fragen konnte sie ihm also allein aus Sorge um ihr Einkommen nicht stellen und passte diesem Umstand fairerweise auch ihre Fragen an Weisband (bzw. "Marina") und Gnarr (bzw. "Jón") an: "Jón, kannst Du uns Deine Wahlkampfstrategie bitte noch einmal in Deinen eigenen Worten beschreiben?"
Der Isländer war der heimliche Star des Abends. Der Komiker Jón Gnarr sei einer, erklärte Precht stellvertretend dem deutschen Publikum, der sich in Zeiten der isländischen Staatskrise bei seiner Wahl zum Bürgermeister aller Tricks des Rechtspopulismus bedient habe. "Er decouvriert den Mechanismus der politischen Versprechungen und die Ästhetik, mit der Parteien Wahlen gewinnen wollen", erklärte Precht, während Jón Gnarr daneben saß und lachte.
Alles, was die Spießer schockt
Damit waren die Allianzen des Abends geklärt, auch wenn Precht dem Publikum eine Erklärung schuldig blieb, was an einem gespielten Rechtspopulisten besser sein soll als an einem echten - zumindest wenn es nicht mehr darum geht, die Mächtigen zu entlarven und zu verspotten, sondern darum, selbst ein politisches Amt zu bekleiden und Macht auszuüben. Auch nach der Lektüre von Gnarrs Buch bleibt diese Frage offen: "Hören Sie gut zu und wiederholen Sie!!!" ist so verkleistert mit Ironie, dass man niemals wissen kann, ob Gnarrs Aussagen naiv sind oder zynisch, finstere Bekenntnisse oder bloß verunglückte Scherze. Dass er sich als Anarchist bezeichnet, ist allerdings einleuchtend. Man muss ihn sich als Cut-up-Künstler der politischen Rhetorik vorstellen, dem alles recht ist, was die Spießer schockt.
Marina Weisband sind solche Ambivalenzen fremd. Sie ist das Gegenteil des semantischen Anarchisten, als der Jón Gnarr sich versteht: Eine Intellektuelle, die ihre politischen Ideen umsetzen will. Ihr Anliegen ist die "Liquid Democracy", eine flexible Mischform aus direkter und repräsentativer Demokratie.
Ihr Buch "Wir nennen es Politik" ist zu weiten Teilen ein Plädoyer für diese Idee. Auch wenn es sich bisweilen wie ein Skript der Kindernachrichten liest, weil kaum ein Satz die Twitterlänge von maximal 140 Zeichen übersteigt und Weisband stets um einfache Bilder bemüht ist (unser Nervensystem ist wie das Internet, Körperzellen kommunizieren wie alte Bekannte), täuscht das nicht darüber hinweg, dass sie eine revolutionäre Idee vertritt: Zumindest theoretisch hat die "Liquid Democracy" das Potential, Parteien und Parlamente überflüssig zu machen.
Genuschelte Bekenntnisse
"Politromantizismus" nannte das Precht gestern Abend, doch bevor Weisband darauf antworten konnte und so etwas wie eine politische Kontroverse in Gang kam, einigten sich alle Podiumsteilnehmer darauf, dass man die Politik nicht reformieren könne, ohne die Bildung zu demokratisieren, und dass die Journalisten gefälligst netter sein sollten zu den Politikern, schließlich seien das auch nur Menschen.
Es wurde an diesem Abend viel über politischen Stil geredet und wenig über politische Ziele, viel von Mitteln und wenig von Zwecken. Die Demokratie müsse sehr bald noch viel demokratischer werden, da waren sich alle einig. Doch welche Probleme Gnarr, Weisband und ihre Anhänger mit zusätzlicher Bürgerbeteiligung lösen wollen, blieb unklar. Bekenntnisse zu Frauen- und Schwulenrechten wurden genuschelt, die existentiellen Krisen unserer Zeit nicht einmal erwähnt. Kann man mit "Liquid Democracy" die soziale Ungleichheit lösen? Sind Volksabstimmungen ein adäquates Mittel, um der Flüchtlingskatastrophe zu begegnen (die sich entgegen Volkes Stimme nicht mitten in Deutschland abspielt, sondern auf dem Mittelmeer und in den europäischen Randstaaten)?
Vielleicht, so dachte man am Ende dieses Abends, wäre die Zeit tatsächlich reif für ein neues 1968. Also dafür, zumindest im Rahmen einer Gesprächsrunde mal die Fragen nach Macht und Widerstand zu stellen und darüber zu streiten, wie es denn aussähe, das gute Leben für alle. Die Diskussionsrunde allerdings war nicht der passende Rahmen dafür. Danach mussten Jón Gnarr, Marina Weisband, Richard David Precht und seine Managerin schließlich noch ein bisschen miteinander auskommen - und gemeinsam ihre neuen Bücher verkaufen.