Neues von Joshua Ferris Ein Zahnarzt blickt in den Schlund der Vergänglichkeit

Joshua Ferris: Sein drittes Buch handelt von einem wohlhabenden Mann, der in einer Sinnkrise Halt sucht
Foto: Nina SubinEigentlich könnte Paul O'Rourke von morgens bis abends lächeln, mit strahlend weißen Zähnen, so wie die Menschen in einer Zahncreme-Werbung. Denn Paul O'Rourke geht es blendend, beruflich betrachtet: Er ist Zahnarzt und Facharzt für Prothetik mit einer bestens ausgelasteten Praxis an der Park Avenue in Manhattan.
Seine Patienten sind Rechtsanwälte und Hedgefonds-Manager. Und die Gattinnen von Rechtsanwälten und Hedgefonds-Managern. Sie wünschen sich Zähne wie die von George Clooney oder Kim Kardashian, so wie viele Menschen, aber sie können sich diese Zähne auch leisten. Und so kann auch Paul O'Rourke sich eine Menge leisten, zum Beispiel eine Doppelhaushälfte mit Blick auf die Brooklyn Promenade.
Paul O'Rourke aber ist unglücklich: ein Zyniker vor dem Herrn, der sich abkapselt von der Welt und nicht einen einzigen echten Kumpel hat. In zwölf Jahren New York, so etwas wie der Welthauptstadt der Kultur, war er zwölf Mal im Programmkino, zwei Mal in einer Broadwayshow und ein Mal in einem Jazzkonzert. Meistens hockt er allein zu Hause und schaut sich Baseball an; er hat seit 1984 jedes Spiel der Red Sox auf Video aufgenommen.
Ein Provisorium rettet nichts
"Mein fremdes Leben" hat der Verlag die deutsche Ausgabe des Romans genannt, und dafür gibt es drei gute Gründe. Der erste: Paul O'Rourke hat sich dem Leben entfremdet; er steckt in einer Sinnkrise. Vielleicht schon seitdem sich sein depressiver Vater erschossen hat, sicher aber seitdem er als Zahnarzt praktiziert. Denn als Zahnarzt, so sieht er das, schaut er jeden Tag der Vergänglichkeit in den Schlund, dem Verfall. Er kann ihn nur mit einem Provisorium kaschieren, bestenfalls aufschieben. Aufhalten kann er ihn nicht.
Paul O'Rourke gibt sein eigenständiges Leben - das ist der zweite Grund für den Titel - nur zu gern auf, sobald es dazu eine Gelegenheit gibt, und die beste Gelegenheit gibt ihm stets eine neue Liebe. Er ist dann nicht mehr Paul, sondern Paul-der-Alison-liebt oder Paul-der-Connie-liebt. Genauer: Paul-der-Connie-und-deren-Eltern-und-deren-Religion-liebt. Er wirft seine Persönlichkeit über Bord, um endlich irgendwo dazuzugehören. Denn er sehnt sich nach nichts so sehr wie danach, in etwas Größeres einzugehen, etwas Überzeitliches, etwas Ewiges. Er glaubt an nichts, aber er hätte gern den Halt, den Traditionen und Rituale einem Gläubigen vermitteln.
Diese Sehnsucht scheint sich eines Tages zu erfüllen, als ein Fremder - das ist der dritte Grund für den Titel - sich als Paul O'Rourke ausgibt und sein digitales Leben kapert. Der Fremde legt einen Fake-Account für ihn bei Facebook an, twittert unter seinem Namen atheistische Aphorismen, postet unter seinem Namen antisemitische Kommentare auf Nachrichtenseiten.
Auch Paul O'Rourkes Zahnarztpraxis hat plötzlich eine Website, und auf dieser Website stehen von Tag zu Tag nebulösere Texte, die irgendwie religiös wirken und Paul O'Rourke als Angehörigen eines uralten Volkes erscheinen lassen, älter noch als die Juden - und noch bösartiger verfolgt. Gott, so heißt es paradox, habe diesem Volk aufgetragen, an Gott zu zweifeln, und so wurde der Zweifel an Gott zur Religion des Volkes. Zum Gegner des Volkes aber wurde das gläubige Volk der Juden.
Nominiert für den Man Booker Prize
Nach "Wir waren unsterblich" und "Ins Freie" ist "Mein fremdes Leben" der dritte Roman von Joshua Ferris. Der Bestsellerautor, geboren 1974 in Illinois, stand mit dem Buch auf der Shortlist für den Man Booker Prize, den bedeutendsten britischen Literaturpreis. Verliehen wurde dieser an Richard Flanagan und den Roman "The Narrow Road to the Deep North", aber schon die Nominierung gilt als großer Erfolg.
Der deutsche Verlag scheint zu versuchen, den Roman im Windschatten von modernen Internet- und Datenschutz-Debatten zu vermarkten. Anders als das Umschlagfoto und vor allem der Klappentext dies nahelegen, geht es jedoch im Kern gar nicht um Identitätsdiebstahl in der digitalen Welt. Es geht, ganz altmodisch, um einen Mann, der sich verloren fühlt, auch in der analogen Welt. Es geht um die Sehnsucht, sich eingebunden zu fühlen, sei es in eine Fanschar oder ein soziales Netzwerk wie Facebook, eine Familie oder eine religiöse Tradition.
"Mein fremdes Leben" kommt unterwegs manchmal wie eine Liebeskomödie daher, dann wieder wie eine Religionssatire, manchmal wie eine Detektivgeschichte, dann wieder wie ein Ideenroman. Das hat seinen Reiz, führt aber auch dazu, dass die Wege zum Ziel sehr verschlungen sind. Ferris schreibt pointensatt, aber auch verplaudert. 50 oder 100 Seiten weniger wären mehr gewesen.
Joshua Ferris: "Mein fremdes Leben". Aus dem Amerikanischen von Marcus Ingendaay. Luchterhand; 384 Seiten; 19,99 Euro.