Krimiautorin Karin Slaughter »Meine Großmutter wurde misshandelt, fast alle wussten Bescheid«

Fast so hart, wie die Krimis, die sie schreibt, war die Welt, aus der sie kommt: Karin Slaughter hat in ihrer Familie selbst menschliche Abgründe erlebt. Hier spricht sie über Gewalt, Drogen – und die Ursachen, die toxisches Verhalten häufig hat.
Ein Interview von Marcus Müntefering
Autorin Slaughter: »Nicht allzu sehr Partei gegen Arschlöcher ergreifen«

Autorin Slaughter: »Nicht allzu sehr Partei gegen Arschlöcher ergreifen«

Foto: Alison Cohen Rosa

In Atlanta, der Hauptstadt des US-Bundesstaats Georgia, wo Slaughter geboren wurde und immer noch lebt, spielt auch ihr neuer Roman »Die falsche Zeugin«. Sie erzählt darin von dem Schicksal zweier Schwestern, die als Kinder zunächst Opfer von Missbrauch wurden, um den Vergewaltiger schließlich umzubringen und die Tat zu vertuschen. Rund zwanzig Jahre später ist die eine Schwester, Callie, opioidabhängig, während Leigh als Anwältin erfolgreich ist. Doch ihr neuer Klient ist ausgerechnet Andrew, der Sohn des Mannes, den Leigh und ihre Schwester damals getötet hatten. Seine Anklage: Vergewaltigung. Der Roman entwickelt sich zu einem packenden Katz-und-Maus-Spiel zwischen Leigh und Andrew, wobei die Rollen ständig wechseln. Doch Slaughter beherrscht nicht nur Spannung, sondern webt geschickt bissige Sozialkritik in die Handlung, die sich vor dem Hintergrund der Coronakrise entspinnt.

Das Interview wurde per Zoom geführt, Slaughter trug – wie ihre Figur Leigh zu Beginn des Romans – ein T-Shirt mit dem Logo der Rockband Aerosmith und sprach mit einem leicht knurrigen Südstaatenakzent, wobei sie auffallend häufig das Wort »Fuck« in das Gespräch einstreute.

SPIEGEL: Ms Slaughter, als Sie Ihren Roman »Die falsche Zeugin« begonnen haben, im März 2020, war noch nicht absehbar, wie sich die Coronakrise entwickeln würde. Als Sie ein Jahr später fertig waren, beklagten die USA bereits eine halbe Million Tote, während mehrere zugelassene Impfstoffe für Hoffnung sorgten. Eine unübersichtliche Situation – warum haben Sie sich dennoch entschlossen, die Pandemie zum Teil Ihres Romans zu machen?

Slaughter: Eigentlich hatte ich erwartet, dass die Pandemie vorbei sein würde, wenn mein Roman fertig ist. Das hat sich ja leider ziemlich anders entwickelt. Wir leben inzwischen in einer völlig veränderten, schrägen Welt, in der das Tragen von Masken und Hygienemaßnahmen uns zur zweiten Natur geworden sind.

SPIEGEL: Wie sehr fasziniert Sie als Autorin eine Gesellschaft in der Krise?

Slaughter: Das ist es doch, worüber ich immer schreibe. Die Unterschiede zwischen den Klassen, und vor allem wie Frauen benachteiligt, unterdrückt und missbraucht werden. Ich habe keine Kinder und das Glück, von zu Hause arbeiten zu können, muss mir also in der Pandemie keine Sorgen um Job und Familie machen. Trotzdem strengt diese Zeit mich wahnsinnig an, und ich denke oft darüber nach, wie schlimm es für andere, weniger privilegierte Menschen sein muss. In meinen Romanen geht es immer um Traumata, wie sich psychische Deformationen und Krankheiten aus Erlebnissen aus der Kindheit und Jugend speisen.

»Wir haben in den USA keine Adeligen. Die Superreichen sind unser Adel.«

Und ich frage mich, wie sich die Kinder und Jugendlichen als Erwachsene entwickeln werden, die durch ein Aufwachsen unter Coronabedingungen traumatisiert werden. Diese Frage spiegelt sich in meinen beiden Protagonistinnen wider. Callie und Leigh mussten vor zwanzig Jahren Schlimmes durchmachen, und heute sind beide ziemlich kaputt, jede auf ihre Weise. Leigh hat ihre Ängste und Wut meistens im Griff und Karriere gemacht – was die Gesellschaft feiert, während sie für Menschen wie Callie, die ihren Schmerz mit Drogen bekämpfen, oft nur Verachtung übrig hat.

SPIEGEL: Inwiefern trägt die Coronakrise dazu bei, dass sich die US-Gesellschaft weiter spaltet?

Slaughter: Zunächst einmal haben wir zum Glück keinen Präsidenten mehr, der die Menschen dazu bringt, ihr Schlimmstes nach außen zu kehren. Leute wie Trump wollen die Gesellschaft spalten, weil sie so gewinnen. Die meisten Amerikaner sind vernünftige Menschen, sind dafür, privaten Waffenbesitz zu regulieren und für das Recht auf sichere Abtreibung. Doch die anderen, die QAnon-Anhänger und Antisemiten, fanden unter Trump viel mehr Gehör als zuvor. Und es gibt zu viele Menschen, die solche Leute unterstützen, einfach, weil sie zu wenig über sie wissen. Wahrscheinlich haben bei Ihnen in Deutschland viele AfD-Wähler auch keine Ahnung, welche Abgründe sich in dieser Partei auftun.

SPIEGEL: In Ihrem neuen Roman heißt es einmal, dass es großartig ist, in den USA reich, weiß und ein Mann zu sein, wie genau meinen Sie das?

»Meine Schwester war lange drogenabhängig und hat gedealt. Übrigens sehr erfolgreich.«

Slaughter: Zunächst einmal haben wir in den USA ja keine Adligen, also sind die Superreichen unser Adel, Typen wie der Vollpfosten Elon Musk werden dafür gefeiert, dass sie riesige Vermögen anhäufen. Es stimmt auch, was Leigh im Roman sagt: Es ist besser schuldig und reich zu sein als unschuldig und arm. Unser Justizsystem bevorzugt Menschen, die Geld haben, sie können sich Gerechtigkeit einfach kaufen. Nehmen wir das Beispiel Kyle Rittenhouse…

SPIEGEL: …der weiße Teenager, der im August 2020 im Zusammenhang mit Black-Lives-Matter-Unruhen in Wisconsin zwei Menschen mit einem Sturmgewehr getötet hatte und vor wenigen Wochen freigesprochen wurde…

Slaughter: … da ging es auch nur um Geld. Seine Unterstützer hatten zwei Millionen Dollar für seine Verteidigung gesammelt. Ohne dieses Geld wäre er vielleicht verurteilt worden.

SPIEGEL: Aber Freispruch war doch letztlich rechtens, oder?

Slaughter: Viele Gesetze in den USA, auch in Wisconsin, sind so verfasst, dass sie Weiße schützen. Ich glaube auch nicht, dass er laut dieser Gesetze zu Unrecht freigesprochen wurde, sondern dass Gesetze, die es ermöglichen, dass jemand wie Rittenhouse freigesprochen wird, falsch sind. Und ganz nebenbei: Ein Schwarzer mit einem Sturmgewehr wäre wahrscheinlich nicht wie Rittenhouse verhaftet, sondern gleich erschossen worden.

»Viele hatten ein größeres Problem damit, wenn Frauen ihre Wut äußerten, als damit, dass sie ermordet werden.«

SPIEGEL: Zurück zu »Die falsche Zeugin«: Ihre Figur Callie besitzt trotz ihrer Drogensucht eine gewisse Würde.

Slaughter: Ich wollte nicht, dass Callie so rüberkommt wie die Süchtigen in vielen anderen Romanen, vor allem in Krimis, wo sie entweder die Bösen sind oder jämmerliche Figuren. Und ich wollte, dass die Leser Callie mögen, eben weil sie akzeptiert, wer sie ist und was sie getan hat. Erstaunlich viele Drogenabhängige haben diese Einstellung: Sie wissen, wann und warum sie ihr Leben in die Scheiße geritten haben und dass die Sucht ihr Leben bestimmt. Wer von Opioiden abhängig ist, der kann nicht einfach so auf kalten Entzug gehen, die Droge verändert die Gehirnfunktionen.

SPIEGEL: Woher wissen Sie so viel über das Thema?

Slaughter: Meine Schwester war lange drogenabhängig und hat gedealt – übrigens sehr erfolgreich, etwas sehr nachdrücklich zu betreiben liegt uns beiden offenbar. Sie hat mir dabei geholfen, mit Drogensüchtigen Kontakt aufzunehmen, was hilfreich war, aber auch schrecklich. Es hat mir vor Augen geführt, wie wichtig es ist, nicht nur die Statistiken zu sehen, sondern die echten Menschen dahinter. Wir müssen Süchtigen helfen, mit Zuneigung, mit Therapien und Ersatzdrogen, anstatt sie zehn bis 15 Jahre ins Gefängnis zu stecken, was sie und ihre Familien endgültig zerstört. Drogensucht wird immer noch zu häufig als eine moralische Verfehlung gesehen, und nach dieser Logik verdienen die Abhängigen es, bestraft zu werden und ein unwürdiges Leben zu führen.

SPIEGEL: Seit Ihrem ersten Roman »Belladonna« ist sexualisierte Gewalt gegen Frauen eines Ihrer Hauptthemen. Hat das auch persönliche Hintergründe?

Slaughter: Ja, meine Großmutter wurde von ihrem Mann misshandelt, worüber in unserer Familie fast alle Bescheid wussten, aber nicht darüber redeten. Meine Onkel machten, statt zu helfen, Witze darüber, wie ungeschickt sie sei, wenn sie wieder einmal mit einem blauen Auge herumlief oder einer gebrochenen Rippe. Ich war damals noch ein Kind und habe von dem Missbrauch nichts mitbekommen, aber als ich angefangen habe mit dem Schreiben, tat ich es auch für meine Großmutter, und um gegen das Schweigen anzuschreiben, dass so wie bei ihr immer nur die Täter schützt, nie die Opfer.

SPIEGEL: Sie waren eine der ersten Frauen, die vor 20 Jahren in das bis dahin vor allem von männlichen Autoren dominierte Thriller-Genre eingedrungen sind.

Slaughter: Als ich angefangen habe, gab es zum Thema Gewalt gegen Frauen noch nicht viele Romane, die von Frauen und aus der Perspektive von Frauen geschrieben waren. Stattdessen gab es viele Menschen, die ein größeres Problem damit hatten, wenn Frauen ihre Wut laut äußerten, als damit, dass jeden Tag Frauen misshandelt, vergewaltigt und ermordet werden. Dagegen haben einige Autorinnen, darunter auch ich, angeschrieben. So wie auch gegen das Klischee, dass für durch Gewalterfahrungen traumatisierte Frauen alles gut wird, wenn sie nur den richtigen Mann finden, der mit ihnen ins Bett geht.

»Ich hatte keine perfekte Kindheit. Bücher waren für mich eine Möglichkeit, der Realität zu entkommen.«

SPIEGEL: Waren Ihre Romane anfangs oft so brutal, um Gehör zu finden, in einer männlich dominierten Welt?

Slaughter: Nein, das wäre mir nie in den Sinn gekommen. Ich mochte immer schon harte Krimis und wollte selbst welche schreiben. Aber natürlich kam gleich ein alberner Vorwurf wie »Die schreibt wie ein Mann«. Aber ich versichere ihnen: Es gibt viele Frauen, die so denken und fühlen wie ich.

SPIEGEL: Vor allem in feministischen Kreisen wird schon länger darüber diskutiert, inwiefern Gewalt, vor allem die Schilderung von Gewalt gegen Frauen, in Thrillern wie Ihren vor allem der Unterhaltung dient. Wie stehen Sie dazu?

Slaughter: Erst einmal folgt jede Autorin ihrem eigenen moralischen Kompass, und ich würde niemals einer anderen Autorin sagen, wie sie zu schreiben hat. Aber um ein Beispiel zu bringen: Lee Child , den ich sehr schätze, schreibt Bücher, die ähnlich gewalttätig sind wie meine. Aber Lees Romane spielen in einer Fantasiewelt, meine in einer realistischen Welt, was die Gewalt für viele Leserinnen und Leser schwerer erträglich macht. Natürlich schreibe ich, um zu unterhalten, aber ich mache mir viele Gedanken darum, wie ich speziell Gewalt gegen Frauen schildere. Wer damit trotzdem ein Problem hat, der soll einfach andere Bücher lesen, die Buchhandlungen sind voll mit großartigen Romanen, und zum Glück hat jeder die freie Wahl.

SPIEGEL: Wie mächtig ist Literatur – kann sie Menschen ändern?

Slaughter: Das hoffe ich. Ich hatte keine perfekte Kindheit, und Bücher waren für mich eine Möglichkeit, der Realität zu entkommen. Gleichzeitig haben sie mir aber gezeigt, dass Menschen aus anderen sozialen Schichten und aus anderen Ländern die Welt ganz anders sehen als ich. Dessen bin ich mir sehr bewusst beim Schreiben. Und auch wenn ich über ziemlich miese Typen und totale Arschlöcher schreibe, versuche ich, nicht allzu sehr Partei gegen sie zu ergreifen, sondern herauszufinden, wo sie falsch abgebogen sind in ihrem Leben. Und ich schaue genau hin, wie und wo toxisches Verhalten von der Gesellschaft akzeptiert wird. Ich glaube nicht an das absolute Böse, sondern daran, dass Menschen ein Produkt der Gesellschaft und ihres direkten Umfeldes sind. Allzu oft wurden die Täter von heute früher selbst Opfer von Gewalt und Missbrauch. Es wäre schon etwas erreicht, wenn einer dieser Typen einen meiner Romane liest, dabei merkt, dass es darin um jemanden geht, der so ähnlich ist wie er, und daraufhin über sein Verhalten nachzudenken beginnt, oder es gar verändert.

Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren