

Bonvivant in Corona-Zeiten Nicht aufregen, bitte, aber mein Leben war noch nie so angenehm wie jetzt


Marlene Dietrich entspannt (1936): Glückselige Einsamkeit
Foto:John Kobal Foundation/ Getty Images
Was macht Corona mit dem Leben? In dieser Reihe schreiben Künstler, Autorinnen und Denker über die großen Fragen in der Krise.
Noch bevor empörte Stimmen, dank Quarantäne und Langeweile noch schneller als sonst, wieder laut werden wollen, sei allem voran das Folgende zu Protokoll gegeben:
1. Ja, ich finde es schrecklich, wie viele Menschen unter diesem Virus bereits gelitten haben oder gar verstorben sind. Ja, ich trage draußen eine Maske immer aufziehbereit an meinem Hals, und laufe auf den schmalen Fußgängerwegen Berlins Slalom, um zu jedem maskierten oder unmaskierten Bürger, der mir entgegenkommt, Mindestabstand einzuhalten (Jeder ist ein Verdächtiger. Jeder könnte "es" haben. Das sehe ich in den Gesichtern der Menschen, wenn wir einander passieren. Ich denke oft daran, was passieren würde, wenn einer ohne Maske einen anderen ohne Maske einfach aus Vorsatz anhustet. Was würde folgen? Vermutlich so richtig Ärger. Aber auf Mindestabstand.)
2. Ja, ich sehe die unglaublichen finanziellen Einbußen, die die Menschen zu verkraften haben. Allein in meiner Straße (es ist eine lange Straße) haben mindestens sieben Geschäfte zumachen müssen, und ich schaue in traurig leere Räume mit abgebauten Regalen und Verkaufstheken, wenn ich meinen Slalom-Abendspaziergang mache.

Kat Kaufmann, 1981 in St. Petersburg geboren, lebt als Schriftstellerin, Komponistin und Fotografin in Berlin. Für ihren Roman "Superposition" erhielt sie 2015 den ZDF-"Aspekte"-Literaturpreis für das beste literarische Debüt des Jahres. Zuletzt erschien ihr zweiter Roman "Die Nacht ist laut, der Tag ist finster".
Meinen Lieblings-Schreibwarenladen hat es auch getroffen. Ich stand bestürzt da und sah durch das Schaufenster auf die Spuren der Zeit, die alles waren, was übrig geblieben war von dem seit über 30 Jahren mit Hingabe sortierten Laden. Zum ersten Mal suchte ich einen Hinweis an der Ladentür - waren sie wirklich weg? Oder vielleicht doch nur weggezogen? Vielleicht gab es noch ein Lager, wo man die Restposten hätte kaufen können? Aber es gab keinen Hinweis auf den ehemaligen Besitzer, keine Telefonnummer, einfach nichts.
Seit Jahren blieb ich immer wieder vor dem Laden stehen und bewunderte einen wunderschönen, riesigen, automatischen Bleistiftanspitzer, der majestätisch, umgeben von herrlichen, silbernen, schwarzen, nostalgischen Stiften in der Auslage thronte. Er war irrsinnig teuer und gehörte eher auf einen herrschaftlichen Holzschreibtisch eines wichtigen Kabinetts. Und ich hatte weder das Geld, ihn zu kaufen noch den Schreibtisch, auf den der Anspitzer gehört hätte. Von einem Kabinett ganz abgesehen. Eines Tages, dachte ich immer. Eines Tages. Tja. Der Traum ging sehr abrupt zu Ende.
Und zu guter Letzt:
3. Ja, ich verstehe, dass die Menschen mit Kindern schier durchdrehen. Das ist sicher alles ganz und gar schwer und nervenzehrend, home zu officen, während eins, zwei, drei Wesen um einen herumspringen und alle Aufmerksamkeit fordern (Jedoch, noch nie stellte ich mir diese Frage so sehr wie in dieser Krise, ob denn der Homo Sapiens als solcher überhaupt arbeiten und Kinder haben kann. Irgendwie geht das nur with a little help from his friends. Oder Kindergärtnern. Oder... Und da hört es schon auf, weil die Großeltern ja jetzt auch noch wegfallen.
Jedenfalls finde ich den Gedanken interessant, dass dem Menschen als Spezies seine eigenen Kinder zu anstrengend sind, um in einem Extremfall wie diesem weiterhin "normal" zu funktionieren. Ein Bekannter brachte seine Kinder zu seiner Schwägerin, weil er sonst seine Thesis nicht fertig geschrieben kriegt. Hm, habe ich gesagt und gedacht, als ich das aus seinem Mund hörte. Aber wie schon gesagt, alles nur ein Gedanke.)
Ich habe keine Kinder. Und vielleicht kommen wir damit auch schon zum Kernpunkt: Ich bin ein Bonvivant. Und mein Leben war noch nie so angenehm wie gerade. (Ich sagte es ganz oben und ich wiederhole es auch gern noch mal: Nicht! Aufregen!)
Es mag sein, dass es an meiner sozialistischen Vergangenheit in der Sowjetunion liegt, dass geschlossene Geschäfte und ein Konsumverhalten, das sich gegen null einpendelt, mich keineswegs an eine Apokalypse erinnern, sondern eher an meine Kindheit, und daher ein wohliges, ruhiges Gefühl in mir aufkommen lassen.
Je weniger Treiben sich in den Straßen tummelt, umso besser! Ich liebe die leeren Straßen, die mir das Gefühl geben, dass die Frühlingsvögel nur für mich singen, die Bäume nur für mich blühen. Die Häuser, in deren Fenster ich schaue, erzählen mir Geschichten über ihre Bewohner, deren Licht abends durch die Fenster flackert. Ich höre und sehe mehr. Ich lese die schrecklichen Bezeichnungen der Duschgels im Drogeriemarkt und amüsiere mich, nehme mir viel Zeit, alle Produkte zu vergleichen – ja, ich flaniere durch die Drogerie!
Ich schreibe wieder jeden Tag, ab acht Uhr morgens, und habe einen sehr geregelten Tagesablauf. Und dadurch, dass die Bars geschlossen sind und meine Bonvivant-Freunde genauso glücklich wie ich zu Hause sitzen und auch schreiben oder Klavier üben oder Malen und Töpfern und was nicht noch alles, lebe ich sehr alkoholfrei. Ich lese alle meine Lieblingsbücher noch einmal von vorn und bin von Neuem entzückt und froh, dass ich dem Geschmack meines 16-jährigen Ichs, das sich seinerzeit "Bonjour Tristesse" und "Stille Tage in Clichy" gekauft hatte, keine Vorwürfe machen muss.
Und wenn wir bei der Jugend sind, muss ich sagen, ich staune immer wieder, wenn diese jungen Menschen in den gängigen sozialen Kanälen ihrem Unmut über die Langeweile Ausdruck verleihen. Es kann nicht an der Langeweile liegen, sondern nur an ungenutzten Ressourcen. Und wenn wir dabei sind, so sei erwähnt, dass ich meinen Eltern (beide über 70) die erst sehr widerspenstig waren, was das Zuhause bleiben angeht, beigebracht habe, ein iPad richtig auszunutzen und von all den Online-Zumba-, -Tango- und -Yoga-Kursen bei YouTube Gebrauch zu machen.
Und wo Yoga und Zumba sind, da sind auch tausend Onlinekurse zu Philosophie, Fotografie, Gesang, Gitarre. Alles, was das Herz begehrt. Kein Grund, sich nicht endlich all den Dingen zu widmen, die man schon immer aufgeschoben hat. Natürlich geht das einfacher, wenn man kinderlos oder ein Bonvivant ist. Oder beides. Aber man kann es ja dennoch mal auf den Versuch ankommen lassen.
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Nur ab und an, auf meinen Spaziergängen, fehlt mir ein leeres Café, das nur für mich offen hätte und wo ich, nach meinem mittäglichen Spaziergang durch mein Viertel, in der Sonne säße und von einem in schwarze Hose, tadellos gebügeltes weißes Hemd und gern eine saubere Schürze gekleideten italienischen Kellner einen Espresso serviert bekäme. Aber da hört es auch schon auf mit den Konsumsehnsüchten.
"Glücklich, so ganz in dem Gefühl von ruhigem Dasein. Die Einsamkeit ist meinem Herzen köstlicher Balsam." Das sagte Goethes Werther, und er spricht mir aus der Seele.
Ihr, die ihr dort irgendwo, außerhalb meiner glückseligen Einsamkeit, seid: Bleibt stark, gesund und frohen Mutes. Die Zeiten waren schon härter für die Menschheit. Und wenn wir nicht aufpassen, könnten sie noch härter werden. In diesem Sinne.
Ich umarme euch aus Mindestabstand.