Roman von Kate Tempest Liebe und Absturz in London

Sängerin und Autorin Kate Tempest
Foto: Robert Altman/ Robert Altman/Invision/APKaufen Sie sich als Erstes die Platte von Kate Tempest. Nein, gehen Sie zunächst auf eines ihrer Konzerte. Oder, halt, vielleicht doch mit ihrem Roman anfangen? So oder so werden Sie Zeuge von Tempests unbändiger Energie, ihrer wilden Poesie und ihrem großen Einfühlungsvermögen werden. Und Sie werden immer wieder auf diese vier Personen treffen: Becky, Harry, Leon und Pete.
2014 lernte man sie auf Tempests Debütalbum "Everybody Down" kennen. In zwölf Songs, die Spoken Word und Hip-Hop verbanden, entwarf Tempest Miniaturen aus dem Londoner Stadtleben mit den vieren im Mittelpunkt: Tänzerin Becky, wie sie auf der Chichi-Party eines Musikvideoregisseurs herumsteht und den Drogendealer Harry kennenlernt ("Marshall Law"); den Arbeitslosen Pete, den es zufällig in das Café hereinspült, in dem Becky arbeitet, und der sich sofort in sie verguckt ("Lonely Daze"); Drogendealer Leon, der zusammen mit Harry aufgewachsen ist und mit ihm zusammen Koks an Banker und Kreative vertickt ("The Heist").
Als Ganzes genommen erzählte "Everybody Down" eine komplette Gangster-Liebesgeschichte - vom ersten Treffen von Becky und Harry über den Überfall, den Harry verübt, bis zu dem Moment, in dem er und Becky beschließen, mit dem geklauten Geld abzuhauen. Die Platte schaffte es 2014 auf viele Jahresbestenlisten und wurde in Tempests Heimat Großbritannien für den renommierten Mercury Award nominiert.
Autogramme für die Kritiker, Umarmungen für die Fans
Auf der anschließenden Live-Tournee brachte Tempest die Story in einer einzigartigen Mischung aus Hip-Hop-Konzert und Ein-Personen-Theaterstück auf die Bühne. Mal bestimmte ihr Rapport mit Drummer Kwake Bass den Sound, mal rezitierte sie Songtexte wie einen Theatermonolog, dazwischen rappte sie in Doubletime. Am Ende ihres ersten umjubelten Berlin-Auftritts im November 2014 standen die Musikkritikerinnen und Musikkritiker Schlange, um sich das Album von ihr signieren zu lassen. Weniger verdruckste Fans holten sich direkt eine Umarmung ab, schließlich hatte Tempest das Konzert mit einem mitreißenden Plädoyer für mehr Empathie und Menschlichkeit enden lassen.
Von Tempests nervöser Energie ist in ihrem Debütroman, der soeben bei Rowohlt erschienen ist, dem Medium gemäß nicht zu viel zu spüren. Von ihrem großen Einfühlungsvermögen dagegen umso mehr. "Worauf du dich verlassen kannst" (souverän übersetzt von Karl und Stella Umlaut) erzählt erneut die Geschichte von Becky, Harry, Leon und Pete, diesmal allerdings in Prosaform und mit deutlich mehr Details.
Jede Figur erhält ihre Hintergrundgeschichte - und die Eltern der Figuren gleich mit. Wie ein Netz wirft Tempest ihren Roman über Südlondon aus und holt mit weitem Wurf die Stadt über mehrere Generationen ein. Linke Polit-Agitatoren und Metzgertöchter, Fotojournalistinnen und Menschenrechtsanwälte treten so auf den Plan und mit ihnen die vielen Nöte, Hoffnungen und Enttäuschungen, die das Leben unweigerlich mit sich bringt - zumindest wenn man ohne Geld geboren wurde und in eine Zeit hinein, in der Geld das Maß aller Dinge geworden ist.
Unerträgliche Brutalität des Lebens
Stellvertretend für Tempests Humanismus fasst der Roman die Überzeugungen von Graham, dem Vater von Pete und Harry, zusammen: "Er glaubte an das Gute im Menschen, und trotz der Gräuel, die er miterleben musste, hielt er an seiner Überzeugung fest, dass Menschen nur deshalb vom rechten Weg abkamen, weil ihnen durch Missbrauch der einen oder anderen Art Leid zugefügt worden war. Es war die unerträgliche Brutalität des Lebens, welches die unerträgliche Brutalität im Leben hervorbrachte."
In Tempests Figurenensemble finden sich folgerichtig weder Opfer noch Täter, weil sie die Sinnhaftigkeit moralischer Schuldfragen rundherum verneint. Selbst Drogendealer, die versuchen, Frauen sexuell zu nötigen, sind im Grunde umgängliche Typen, die einen verdammt guten Gin Fizz mixen. Und das Geld, das Harry und Leon mit dem Dealen verdienen, soll ja auch nur für einen eigenen Laden sein, den sie irgendwann eröffnen wollen: "Kein blödes, poshes Restaurant, wo sie dir zwölf Tacken für ein Frühstück abknöpfen", erzählt Harry Becky gleich bei ihrer ersten Begegnung. "Einen schönen Ort, an dem sich Leute wohlfühlen. Einen Raum, wo Menschen sich begegnen können. Wir sind einsam. Wir sind alle so einsam in dieser Stadt."
In solchen Passagen vermisst man die peitschenden Beats von Tempests Musik und die Wucht, mit der sie ihre Texte rappt. Für beide Stilmittel, durch die ihre Milieuskizzen in Songform nicht in die Sozialromantik abgleiten, findet sie keine literarischen Entsprechungen. Betulich kommt "Worauf du dich verlassen kannst" mitunter rüber, erzählerisch konventionell und formal ideenlos. Mehr Experiment hätte dem Buch gutgetan, kürzere Einschübe, wildere Textcollagen - so wie bei "NW", Zadie Smiths glänzendem Nord-London-Roman, der ebenfalls Stadtgeschichte anhand eines Personenquartetts erzählt.
Harry ist jetzt eine Frau
Wo niemand Tempest etwas vormacht, ist allerdings die Sprache, die sie für das Gefühlsleben ihrer Protagonisten findet. Wie eine antike Göttin, die über die physikalischen Gesetze nach eigenem Dafürhalten bestimmt, lässt Tempest Gefühle zu Personen werden - "Stolz schwimmt durch Becky hindurch, bleibt am Beckenrand stehen, um sein Haar zu schütteln und seine Muskeln spielen zu lassen." - und Körper ihre Verfasstheit wechseln - "Harry blinzelt, sammelt ihre Körperteile aus allen Ecken des Raumes auf und setzt sie wieder zusammen."
Vor allem die Metaphern und Vergleiche, die Tempest für das Erleben von Liebe und Begehren findet, sind von einer nahezu ekstatischen Fantasie: "Harry spürt ein Kribbeln und weiß, dass ein Blick auf ihr ruht. Sie schaut sich um und sieht, dass eine Frau sie beobachtet. Sie sieht sie flüchtig an und ist sofort geblendet. Die Frau leuchtet so grell in Harrys Augen. Sie explodiert aus sich heraus wie ein Feuerball. Heller und heller."
Im Buch ist aus dem jungen Mann Harry eine Frauen liebende junge Frau geworden. "'Kommt das von Harriet?', fragt Becky. 'Ne.' Harry schüttelt den Kopf und lächelt die Frau trotzdem an. 'Das kommt von Harry.'" In der Beschreibung von Harry, die natürlich doch Harriet heißt, kann man Tempest selbst erkennen - mit ihren "springenden Locken", der "gefurchten Stirn", den "hohen, zarten Wangenknochen, den kleinen, hellen Augen, die tief und ausdrucksstark im Gesicht liegen". Und passenderweise ist Becky nun auch eine Frau, die Männer wie Frauen mit nach Hause nimmt. Womöglich auch Harry.
Ob es nun an der autobiografischen Verzahnung liegt oder nicht: Die queere Liebesgeschichte verbindet sich in "Worauf du dich verlassen kannst" überaus organisch mit Tempests anderen Herzensthemen, mit Verdrängung, Verarmung, Idealismus und Empathie. So entsteht eine unangestrengte Vielschichtigkeit und Kompaktheit, die den Roman als eigenständige Darstellungsform der Geschichte von Becky, Harry, Leon und Pete rechtfertigt.
Also nun doch zunächst Roman vor Album, dann Konzert? Ach, am besten erst einmal zu einer Lesung von Kate Tempest. Kommende Woche ist sie für vier Termine auf Lesetour in Deutschland: am 31. in Berlin, 1. Juni in Köln, 2. Juni in Hamburg sowie am 3. Juni auf dem Maifeld Derby in Mannheim.

Kate Tempest:
Worauf du dich verlassen kannst
Aus dem Englischen von Karl und Stella Umlaut
Rowohlt Taschenbuch Verlag;
400 Seiten; 14,99 Euro.