Krimis des Monats Bei Absatz Mord

Krimithema Stilettos: Irritierend sadistisch
Foto: dapdFriedrich Dürrenmatts "Der Richter und sein Henker": Grüezi, Tristesse!
Sein dritter Kriminalroman hieß 1958 "Das Versprechen" - das für seine eigene Karriere entscheidende Versprechen gab der junge, damals knapp 30-jährige Schriftsteller schon acht Jahre früher: Mit einem Krimidebüt, das einen auch ein halbes Jahrhundert nach seinem Erscheinen in seinen Bann zieht. Einem Buch, das den heutigen Leser fast schlagartig alle Vorurteile vergessen lässt, die er mit dem Namen des Autors hätte verbinden können.
Der, Friedrich Dürrenmatt, war irgendwann so übergroß und zum Inbegriff eines oberstufentauglichen Vorzeigeschweizers der Nachkriegsliteratur geworden, dass sein Reiz sich ebenso abgenutzt, wie sich der Titel dieses Krimidebüts mittlerweile als geflügeltes Wort verbraucht hat. "Der Richter und sein Henker" heißt es, nun bei Diogenes wiederveröffentlicht in einer einbändigen Gesamtausgabe mit sämtlichen Kriminalromanen Dürrenmatts.
Zu entdecken ist eine knappe, sagenhaft atmosphärisch komponierte Geschichte voller Tristesse, mit einer Hauptfigur, wie es sie in der Geschichte des Kriminalromans nur allzu selten gibt: Dem todkranken, auf schweizerisch "Kommissär" genannten Ermittler Bärlach; einem desillusionierten Alten mit bewegter Vergangenheit, der sich in jungen Jahren in Istanbul auf eine verhängnisvolle Wette einließ. Nun, da der Arzt ihm noch zwölf Monate zu leben gibt, bekommt Bärlach es wieder mit jenem Mastermind des Bösen zu tun, dem er damals unterlegen war.
Als einer seiner Untergebenen ermordet wird, zieht Bärlach die nötigen logischen Schlüsse so schnell wie Sherlock Holmes, setzt schließlich aber jenseits des Gesetzes eine Intrige in Gang, wie sie Kriminalschriftsteller ihren Helden nur selten gestatten. Das Ende von "Der Richter und sein Henker" ist ebenso ernüchternd wie das von John le Carrés grandiosem "Verräter wie wir" - das allerdings ist ein Alterswerk von über 400 Seiten.
Mit "Der Verdacht", in diesem Sammelband ebenso enthalten, gönnte Dürrenmatt dem Kommissär Bärlach ein Jahr später noch einen zweiten Fall. Das Kunststück, einen körperlich hinfälligen Mann zu beschreiben und zugleich einen mitreißenden Krimi zu verfassen, gelingt ihm auch in diesem Buch - und doch merkt man, dass Dürrenmatt sich bei "Der Verdacht" schon mehr Gedanken als nötig gemacht hat. Eine Skrupelhaftigkeit, die sich in seinen späteren Kriminalromanen erst recht zeigte: neben "Das Versprechen" noch das vor lauter Formwillen etwas schwerfällige "Justiz" und das reizende, Fragment gebliebene "Der Pensionierte".
"Der Richter und sein Henker" aber ist unbedingt wiederzuentdecken. Ein Jahrhundertbuch, dessen Qualitäten in der deutschsprachigen Kriminalliteratur nur selten erreicht werden. Mancher Leser mag Friedrich Dürrenmatt gedanklich schon in die Gruft der überkommenen Klassiker abgeschoben haben - diese Wiederveröffentlichung könnte deshalb auch eine Wiederbelebung sein. Denn ein Versprechen lässt sich über sein Debüt auch heute noch abgeben: Wer traurige, gut konstruierte Kriminalromane mag, dürfte diese Lektüre kaum bereuen. Sebastian Hammelehle

Friedrich Dürrenmatt:
Die Kriminalromane
Im Schuber, mit Lesebändchen.
Diogenes; 988 Seiten; 28,90 Euro.

Peter James' "Du sollst nicht sterben": Blutorgie des Schuhteufels!
In den Siebzigern verdiente Peter James, heute 63 und einer der erfolgreichsten britischen Krimiautoren, sein Geld mit der Finanzierung von B-Movies. Darunter waren Perlen wie David Cronenbergs Frühwerk "Shivers - Der Parasitenmörder", aber auch grauenhafter Schund der Marke "Blood Orgy Of The She-Devils". Es war die Hochzeit des Exploitationkinos, und ein Merkmal dieser kruden (und manchmal großartigen) Filme, dass man sich sozialkritisch gerierte, nur um dann lustvoll auszuschlachten, was man anzuprangern vorgab. Diese Doppelmoral kennzeichnet auch Peter James' stellenweise irritierend sadistische Krimis. Immer wieder wechselt James in die Perspektive von Täter und Opfer, suhlt sich seitenlang in Unappetitlichkeiten, ohne dass es die Handlung voranbringen oder irgendeinen Erkenntnisgewinn nach sich ziehen würde.
Problematisch ist aber gar nicht mal die - genretypische - Gewaltdarstellung an sich, sondern dass diese grell-übertriebenen Passagen in James' ansonsten eher konventionellen Thrillern wie Fremdkörper wirken. Menschen werden lebendig begraben, für Snuff-Filme zu Tode gequält oder ihrer Organe beraubt. Und das alles in dem eigentlich so beschaulichen Seebad Brighton, einem Ort, an dem man kaum schlimmere Verbrechen als den Kampf um Sonnenliegen vermuten möchte - obwohl: Schon 1938 siedelte Graham Greene hier seine hochkatholische Gangstergeschichte "Brighton Rock" an, laut Peter James das Buch, das ihn zum Schreiben animiert hat.
Inzwischen hat James mehr als 30 Romane veröffentlicht, darunter die Roy-Grace-Reihe, aus der mit "Du sollst nicht sterben" (der Titel ist ebenso ungelenk wie die deutsche Übersetzung) gerade der sechste Band veröffentlicht wurde. Detective Superintendent Grace und sein Team bekommen es diesmal mit einem Serienvergewaltiger zu tun. Besonderes Merkmal: Er ist Schuhfetischist, alle seine Opfer trugen teure High Heels und wurden von ihm dazu gezwungen, mit den Designerstücken sexuelle Handlungen an sich vorzunehmen. Lange Zeit kommt Grace mit seinen Ermittlungen nicht voran, und was es für ihn nicht einfacher macht: Der Fall weist Parallelen zu einer zwölf Jahre zurückliegenden Serie von Vergewaltigungen auf, an deren Aufklärung er damals scheiterte.
Routiniert, wenn auch zu Beginn reichlich umständlich, erzählt James seine Geschichte, schickt die Polizisten auf falsche Fährten, während er dem Leser immer neue Verdächtige präsentiert. Die Auflösung, die er anbietet, ist sowohl überraschend als auch stimmig, und so hätte aus "Du sollst nicht sterben" ein ordentlicher Krimi werden können, wenn er nicht ausführlich im Privatleben des biederen Polizisten Roy Grace und seiner schwangeren Freundin schwelgen würde. So sauber James in der Lage ist Spannung aufzubauen, so schwach ist er in der Schilderung zwischenmenschlicher Beziehungen - und viel zu oft wird aus dem Krimi ein Kitschroman. Marcus Müntefering

Peter James
Du sollst nicht sterben
Ein neuer Fall für Roy Grace.
Scherz Verlag; 400 Seiten; 17,95 Euro.

Florian Felix Weyhs "Toggle": Weltverschwörung beim Internetkonzern
Manchmal merkt man es schon an den Namen. Peter Goodrick-Clark, Reimar Dijkerhoff, Alexandre Ranchin, Jewgeni Jacob Fünfgeld, alles Figurennamen in dieser an Figuren wahrlich nicht armen Geschichte. Und alle fallen sie unangenehm ausgedacht auf. Dieses Bemühte, es zieht sich als Grundnote durch Florian Felix Weyhs Roman "Toggle". Der Name ist unschwer als Verballhornung von Google dechiffrierbar, auch bei Weyh ist es ein Internetkonzern, der als simple Suchmaschine begonnen hat und nun in einer Brandenburger Lagerhalle tonnenweise alte Buchbestände scannen lässt, Seite für Seite. Natürlich, um alles ins Internet zu stellen. So weit so unspektakulär.
Doch dann wird die Deutschlandchefin (fürs Protokoll: "Melissa Stockdale") ermordet, ausgerechnet bei einer Konferenz, auf der Toggle für sein neuestes Projekt werben wollte. Und ihr Nachfolger, der Familienvater Holzwanger, macht sich auf, die Tat auf eigene Faust zu klären. Er findet: einen Geheimbund, Geldbetrügereien, russische Oligarchen mit Übernahmeinteressen und auch, hoho!, eine Weltformel-Programmierung, die den Wert eines Menschen nach seinen digitalen Spuren berechnen soll. Natürlich eine Idee von Toggle.
Es ist Weyhs erster Roman, er ist sonst vor allem Hörfunkjournalist, etwa für den Deutschlandfunk. Im weitesten Sinne politische Sachbücher hat er aber auch schon geschrieben. Und iPad-Geschichten für Kinder entwickelt. Dass der knapp 50-Jährige ausgerechnet den Neapolitaner Ferdinando Galiani, Denker des 18. Jahrhunderts und Namenspatron des Berliner Verlags, zentral ins Buch reingeschrieben hat, ist zumindest schlau für die Verkäufe. Und es liest sich mit seinen bildungsbürgerlichen Referenzen und Anklängen an immeraktuelle Datenspur-Diskussionen auch ganz unterhaltsam weg.
Nur: Unter einem Thriller stellt man sich etwas anderes vor. Dass Google und Facebook größenwahnsinnig sind, ist ja nichts Neues. Geschockt ist man an keiner Stelle des Plots, nicht einmal der Geheimbund lehrt einem das Gruseln - da bekommt selbst der für seine Krimi-Backmischungen bekannte Dan Brown deutlich mehr Spannungsbogen hin. Und was das gesellschaftskritische Potential eines Thrillers übers Digitalzeitalter angeht: Neal Stephensons "Snow Crash", "Diamond Age" oder "Cryptonomicon" sind zwar bis zu zwei Jahrzehnte alt, aber im Vergleich zu diesem Text hier auch heute noch ganz andere Kaliber. Anne Haeming

Florian Felix Weyh:
Toggle
Galiani; 440 Seiten; 19,99 Euro.
