Kultautor Neal Stephenson "Ich habe einen Doppelgänger"
SPIEGEL ONLINE: Herr Stephenson, sind Sie ein Prophet?
Neal Stephenson: Nein. Ich sitze alleine da und schreibe. Dann e-maile ich das Geschriebene, und jemand druckt es. Alle vier Jahre tauche ich auf und mache eine Lesereise. Aber ich bin kein Prophet.
SPIEGEL ONLINE: 1994 haben Sie mit ihrem Onkel ein Buch geschrieben, in dem ein US-Präsident von einer finsteren Version des industriell-militärischen Komplexes ferngesteuert wird. Man könnte das als Vorhersage der vergangenen acht Jahre sehen ...
Stephenson: (lacht) Dieses Buch, "Interface", ist offenkundig Satire. Es gibt darin eine Technik, die das Gehirn des Präsidenten direkt mit Umfrageergebnissen koppelt. Natürlich passieren dadurch verrückte, komische Sachen. Wäre George W. Bush an so ein System gekoppelt gewesen, würden ihn heute alle lieben, seine Politik wäre sehr populär. Aber bei ihm hat das nicht geklappt.
SPIEGEL ONLINE: 1996 kam "The Diamond Age" heraus, ein Roman über ein elektronisches Buch, das ein unterprivilegiertes kleines Mädchen erzieht. Jetzt reden alle über E-Reader, und das "One Laptop Per Child"-Projekt will Kinder in der Dritten Welt mit Hilfe billiger Laptops ausbilden.
Stephenson: Das Buch hat offenbar viele Leute inspiriert. Das ist schön. Aber die Grundidee, Technik für Bildung einzusetzen, ist eigentlich ziemlich offensichtlich. So ähnlich wie bei "Snow Crash" ...
SPIEGEL ONLINE: ... Ihrem Buch aus dem Jahr 1992, in dem eine virtuelle Welt, eine Art perfektes "Second Life" eine wichtige Rolle spielt ...
Stephenson: ... Die Ideen in "Snow Crash" sind auch ziemlich offensichtlich. Irgendwer hätte so etwas ohnehin gebaut, ein "Metaversum", auch ohne solche Bücher. Aber Bücher können eine Art Sammelpunkt sein: Die Leute lesen die Geschichte und verstehen die Idee. Anstatt zu sagen "wir möchten eine Massively-Multiplayer-Online-Rollenspiel-Community erschaffen", kann man sagen "wir wollen so etwas bauen wie in 'Snow Crash' ". Und das Gegenüber sagt: "Oh ja, das habe ich gelesen!"
SPIEGEL ONLINE: "Cryptonomicon", erschienen 1999, handelt von der Bedeutung von Verschlüsselungstechniken und von einer Art Zufluchtsort für Dateien, einem sicheren Hafen, wo Menschen Daten sicher verwahren können. Heute reden alle über Datenschutz, über Googles Datenhunger und den mancher Regierungen ...
Stephenson: Aber es hat sich gezeigt, dass man für so einen Zufluchtsort nicht wie im dem Buch in einem Land irgendwo mitten im Ozean ein Loch gräbt und Server hineinstellt. Heute benutzt man das Internet und verschlüsselt die Daten einfach. Das Bild im Buch ist also eher poetisch. Zudem zeigt sich jetzt, dass eine böse Regierung andere Mittel hat, in die Privatsphäre ihrer Bürger einzudringen, als deren verschlüsselte Dateien zu lesen. Und: Die Menschen schützen ihre Privatsphäre selbst nicht mehr. Sie veröffentlichen unfassbar Persönliches auf Facebook-Seiten, in Blogs oder E-Mails - als ob sie den Drang verspüren, jedem auf der Welt mitzuteilen, was sie denken.
SPIEGEL ONLINE: 2003 und 2004 kam die "Barock-Trilogie", der dritte Teil ("Principia") erscheint jetzt auf Deutsch. Diese Romane spielen im 17. Jahrhundert - aber sie handeln unter anderem von der Entstehung der internationalen Finanzmärkte. Wieder ein brandaktuelles Thema ...
Stephenson: Es wird immer Crashs geben. Wenn ich 2003/04 ein Buch über Finanzmärkte schreibe und 2008 kracht der Markt zusammen, kann ich nicht behaupten, das sei prophetisch gewesen.
SPIEGEL ONLINE: Insgesamt scheinen Ihre Bücher manchmal mehr von Ideen zu handeln als von Menschen ...
Stephenson: Es ist richtig, dass sie von Ideen handeln, das ist ein Merkmal von Science Fiction seit ihren Anfängen. Aus diesem Blickwinkel ist selbst meine "Barock-Trilogie" Science Fiction. Nehmen Sie "Die Zeitmaschine" von H. G. Wells: Er interessiert sich für die langfristigen Entwicklungen in Industriegesellschaften. Das ist ziemlich langweilig. Also schreibt er eine Geschichte über einen Typen, der eine coole Maschine baut, in die Zukunft reist, sich in ein hübsches Mädchen verliebt, dann werden sie von den fiesen Morlocks angegriffen und er muss kämpfen ... Fast jedes Science-Fiction-Buch ist so konstruiert.
SPIEGEL ONLINE: Wir leben in einer Zeit rasanter technischer Veränderung, Mancher kommt längst nicht mehr mit. Gibt es eine Entwicklung bei der Sie selbst nicht mehr mitkommen?
Stephenson: Facebook. Ich verstehe Facebook, ich hätte kein Problem, mir ein Profil anzulegen und so ein Social Network zu benutzen. Aber ich habe entschieden, nicht mehr mitzukommen. Ich kapiere es nicht, es gehört nicht so zu meinem Sozialleben wie das bei vielen jüngeren Leuten der Fall ist.
SPIEGEL ONLINE: Sie haben kein Facebook-Profil?
Stephenson: Doch, aber ich habe keinen Zugriff darauf.
SPIEGEL ONLINE: Passwort vergessen?
Stephenson: Nein, jemand hat es in meinem Namen angelegt, ohne mein Wissen.
SPIEGEL ONLINE: Es ist also über Sie aber nicht von Ihnen?
Stephenson: Ich habe es mir mal über die Schulter von jemandem angeschaut, der davorsaß. Da waren lauter Nachrichten für mich. Sogar von Leuten, die ich kenne: "Hey Neal, toll, dass du jetzt auch ein Facebook-Profil hast, ich habe versucht, dich zu erreichen!" Aber ich hatte keine Ahnung, dass das Ding überhaupt existiert. Ich habe einen Doppelgänger.
Die Fragen stellte Christian Stöcker
Hier finden Sie die englische Originalversion des Gesprächs.