Dorfroman "Lanny" Das Zauberkind ist verschwunden
Wenn Altvater Schuppenwurz spricht, muss man das Buch "Lanny" manchmal schräg halten, es kreisen lassen, die Entfernung zu den Augen verringern. Ein bisschen ist es so: Altvater Schuppenwurz stemmt sich gegen die elementare Ordnung des Satzes, im buchdruckerischen wie im linguistischen Sinne.
Es sind Fetzen konkreter Poesie, die er von sich gibt; kursive Wortkringel wie "Shampoo in den Augen ", "ein halbes Dutzend Hundekotbeh älter ", "raucht nur gutes Gras ", schweben durch das Buch. Altvater Schuppenwurz sagt all das nicht selber, eher hört er es und dient als Resonanzkörper; er spuckt es aus.
Er ist - grob ausgedrückt - der Wald, und als solcher von einer ständig wechselhaften Gestalt: "Er zerfällt und bebt, teilt und sammelt sich, würgt eine Plastikflasche hoch und ein versteinertes Kondom, verweilt kurz als zerschlagene Fiberglaswanne, stolpert und reißt sich die Maske ab, befühlt sein Gesicht und entdeckt lang vergrabene Gerbsäureflaschen. Viktorianischer Abfall."
Linolschnitte und das Leben
Man weiß seit Max Porters vielgelobtem Debüt "Trauer ist das Ding mit Federn" um das Talent des englischen Autors, wenn es darum geht, Sprache zu dehnen, das übliche Format des Romans in die Lyrik hinein zu erweitern. In "Lanny" gelingt ihm das noch einmal besser; er macht mit der Einführung eines Sagenwesens aus dem Wald einen zusätzlichen Raum auf, der die eigentliche Handlung stets in Frage stellt. Und: Er öffnet das Setting, erzählt nicht nur aus dem Privaten, sondern auch aus der Gemeinschaft.

Autor Max Porter
Foto: Lucy Dickens/ Kein & AberIm Kern geht es um Folgendes: Lanny verschwindet. Lanny, der Junge, der furchtlos in die höchsten Kastanienbäume klettert. Lanny, der oft davon träumt, dass er mit Rehen herumläuft. Lanny, das Zauberkind, das der Altvater Schuppenwurz so sehr liebt: "Ihn überkommt eine chirurgische Lust, er möchte das Dorf spalten und das Kind herausziehen", heißt es eingangs.
Von diesem Lanny, vom Alltag und vom Abenteuer mit ihm, von seinen Schrullen und Eigenschaften, von seinen vielfältigen Talenten und der ihm innewohnenden Zärtlichkeit berichten alle Beteiligten: Der Vater, der Tag für Tag mit dem Zug nach London pendelt, die Mutter, die früher einmal Schauspielerin war und nun einen Kriminalroman schreibt, und Pete, der an die 80 Jahre alte Künstler, der sich in das Dorf zurückgezogen hat: Bei ihm, so überlegt die Mutter, könnte Lanny doch Kunstunterricht nehmen.
Aus dieser Idee wächst eine Freundschaft heran, die im Dorf durchaus mit bösen Worten begleitet wird, aber wunderbar scheint. Lanny lernt nicht nur, wie man zeichnet und wie man Linolschnitte anfertigt, sondern auch viel über das Leben von diesem alten Kauz. Dass ein Unglück passieren wird, deutet sich indes an: "Heute Nacht ist das Dorf dicht und drückend", so schildert es Lannys Mutter, "Die Tonlage im Dorf war grundfalsch", so Pete.
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08.06.2023 08.38 Uhr
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Als Lanny verschwindet, kommen weitere Dissonanzen hinzu. Max Porter zeigt sie als Gedankensplitter aus wechselnden Perspektiven, die von der Suche nach Lanny zeugen, von der wachsenden Sorge, aber auch von der Neugierde, die in so einem kleinen Dorf rasch das Kommando übernimmt, wenn etwas passiert, das außerhalb der Norm liegt.
Die Polizei kommt, Blaulicht, ein Hubschrauber "kreist über dem Dorf wie eine fette, unter der Decke brummende Biene". Die Bewohner scheinen sich rasch darauf zu einigen, was passiert sein könnte. "Und da trieb das Wort Pete im Geäst des Abends Blüten. Das Wort Pete rankte abweichend und anormal in alle Richtungen." Manche scheinen es ganz schön zu finden, dass was los ist.
Ein Meister der Tonalitäten
Max Porter bleibt nicht allzu lang bei diesem perfiden Dorftratsch. Er lässt den Leser im letzten Teil des Buches in eine fiebrige Traumwelt abtauchen, wo vor einer Art Tribunal nach dem richtigen Ende des Buches gesucht wird. Es ist ein trauriger Schluss, vielleicht auch ein naheliegender, der aber mit einer Verve erzählt wird, die beeindruckend ist.
Ohnehin ist es so: Max Porter ist ein Meister der Tonalitäten. Mit wenigen Worten zeichnet er ganz eigene Charaktere, treffsicher vermischt er absoluten Realismus mit surrealistisch anmutendem Dorfsagenmaterial, lässt unschuldigste Schönheit vom Bösen wegfegen.
Gleichzeitig stellt diese wuchtige Sprachcollage eine Menge Fragen. Eine sehr direkte, nämlich: Was ist eigentlich mit uns los, dass wir eine Freundschaft zwischen einem Kind und einem alten Mann automatisch als etwas Gefährliches begreifen? Aber auch allgemeinere: Wie tickt ein Dorf, was ist das für ein Mikro-Organismus? Welche Mauern umgeben es? Antworten gibt Max Porter keine; aber es ist etwas viel Größeres, das dieses Buch verströmt: die Hoffnung, dass alles gut werden kann in einer Welt, in der es Kinder wie Lanny gibt.