Laudatio auf Marcel Reich-Ranicki "Die großen Katastrophen liegen noch vor uns"
2. Teil: "Hört auf mit diesem Quatsch. Ich war im Warschauer Ghetto"
Lieber, verehrter Jubilar: Noch immer vor Kühnheit zitternd, möchte ich Sie etwas fragen. Sie waren doch im Warschauer Ghetto. Sie haben in Ihren Erinnerungen beschrieben, wie es in diesem Vorzimmer zur Hölle zuging. Sie haben bei Ihren Lesungen die Menschen zu Tränen gerührt.
Bekommen Sie nicht eine Gänsehaut, wenn im Zusammenhang mit den Lebensbedingungen in Gaza von "Zuständen wie im Warschauer Ghetto" geredet wird? Packt Sie da nicht die Wut und das Verlangen, Ihr Zuhause in der deutschen Literatur für einen Moment zu verlassen und sich draußen auf der Straße umzusehen, wo nicht die Freunde von Heine und Hölderlin unter den Linden flanieren, sondern die Anhänger von Hamas und Hisbollah "Zionisten raus aus Palästina!" rufen? Klingt das in Ihren Ohren nicht so wie "Juden raus nach Palästina!" - nur eben andersrum?
Verstehen Sie mich bitte richtig. Ich frage nur. Ich mache Ihnen keine Vorhaltungen. Jeder lebt für sich allein, der eine in der deutschen Literatur, der andere bei Starbucks. Aber Sie sind doch wer. Neunfacher Ehrendoktor - oder habe ich mich verzählt? Träger des Thomas-Mann-Preises, des Bambi-Kulturpreises, des Ludwig-Börne-Preises, des Goethe-Preises der Stadt Frankfurt am Main; Sie haben die Goldene Kamera und das große Verdienstkreuz mit Stern der Bundesrepublik Deutschland erhalten; der Lehrstuhl für deutsche Literatur an der Universität von Tel Aviv trägt Ihren Namen. Dieses Jahr sind Sie zum Offizier im Orden von Oranien-Nassau ernannt worden.
Und vor zwei Jahren hätten Sie um ein Haar den deutschen Fernsehpreis bekommen. Da können nicht einmal Iris Berben und Peter Sloterdijk mithalten. Ich hätte mir gewünscht, dass Sie auf den Tisch geschlagen und "grässlich!" gerufen hätten, wie Sie es so oft im "Literarischen Quartett" getan haben, oder "Unsinn!" und vielleicht dazugefügt hätten: "Hört auf mit diesem Quatsch. Ich war im Warschauer Ghetto. Ich weiß, wie es da zuging. Verglichen mit dem Warschauer Ghetto ist Gaza ein Club Med."
Meine Damen und Herren, liebe Freunde: Wenn mich meine Antennen nicht täuschen, denken einige von Ihnen, ich sei vom Thema abgewichen. Das bin ich nicht. Wir ehren heute Marcel Reich-Ranicki, den Ludwig Börne unserer Tage. Und wenn wir nicht nur Marcel Reich-Ranicki, sondern auch Ludwig Börne gerecht werden wollen, dann kann diese Ehrung nicht in einem luftleeren Raum, quasi in einem literarischen Bhagwan, stattfinden. Es sind schon genug Essays über die deutsch-jüdische Symbiose und den jüdischen Beitrag zur deutschen Kultur geschrieben worden.
Jetzt wäre es an der Zeit, dass wir uns fragen, warum wir eine Wiederkehr der jüdischen Frage erleben, diesmal in Form des ungelösten Nahost-Konflikts. Warum nach einem Anschlag auf die Synagoge in Worms Ministerpräsident Kurt Beck von einer "Grenzüberschreitung" spricht, die Präsidentin des Zentralrates der Juden in Deutschland, Charlotte Knobloch, "Wehret den Anfängen!" ruft und alle miteinander einen Bekennerbrief ignorieren, in dem es zwar in holperigem Deutsch, aber mit aller Klarheit heißt: "Sobald ihr nicht den Palästinensern Ruhe gibt, geben wir euch keine Ruhe."
Wir müssen uns fragen, ob es zu den Aufgaben und Pflichten von Abgeordneten des Bundestages gehört, auf einem Schiff nach Gaza zu dampfen, das von einer islamistischen Organisation gechartert wurde.
Wenn wir nicht über die fortschreitende Dämonisierung und Delegitimierung von Israel reden, werden wir in der Paulskirche bald eine Gedenkfeier für die Opfer der zweiten Endlösung abhalten können. Und für die Literaturinteressierten unter Ihnen wird es Seminare geben, in denen die Arbeiten von Amos Oz, A. B. Jehoschua und David Grossmann durchgenommen werden, so wie heute in Seminaren die Werke von Isaak Baschevis Singer, Bernard Malamud und Isaak Babel behandelt werden - als literarische Testamente einer untergegangenen Welt.
Der 90. Geburtstag eines Zeugen des 20. Jahrhunderts ist genau der richtige Anlass, um einen Moment innezuhalten und sich zu fragen: Könnte es sein, dass die großen Katastrophen nicht hinter, sondern vor uns liegen? Wir sind damit beschäftigt, geschehene Desaster zu analysieren und auszuwerten, statt potentielle zu erkennen und im Ansatz zu verhindern. Wir trauen uns zu, den Anstieg der Welttemperatur auf zwei Grad zu begrenzen, aber wir sind nicht in der Lage, Iran von seinen Atomplänen abzubringen.
In Nordrhein-Westfalen soll demnächst eine Stiftung gegründet werden, deren Initiatoren es sich vorgenommen haben, jedem Schüler in NRW und später in der ganzen Republik eine Studienreise nach Auschwitz zu ermöglichen. Damit sollen sie gegen antisemitisches Gedankengut immunisiert werden. Die Idee ist nicht schlecht, aber nicht ganz zu Ende gedacht. Sie basiert auf der Überlegung, dass ein zweites Auschwitz verhindert werden muss. In diesem Falle müssten die Schüler aber nicht nach Oswiecim in Polen sondern nach Afula, Metulla, Kfar Saba und Sderot geschickt werden. Der passende Name für das Projekt wäre: "Besuchen Sie Israel, solange es noch existiert."
Verehrter Marcel Reich-Ranicki, droga Pani Teofila, verzeihen Sie mir, dass ich der Versuchung nicht widerstehen konnte, über ein Thema zu sprechen, das mir wie kein anderes am Herzen liegt. Zwischen Ihren Erfahrungen in der Vergangenheit und der Zukunft Israels gibt es eine Verbindung: Es wäre Ihnen einiges erspart geblieben, wenn es diesen Staat schon vor 70 Jahren gegeben hätte. Ihr Leben wäre weniger ereignisreich verlaufen, Ihre Erinnerungen wären unter dem Titel "Mein Leben im Kibbuz" erschienen, es wäre alles nicht so spektakulär, dafür aber bekömmlicher gewesen.
Ich verneige mich vor Ihrem Leben.
Bleiben Sie gesund. Bleiben Sie stark, bleiben Sie böse.
Vor allem aber: Bleiben Sie!
- 1. Teil: "Die großen Katastrophen liegen noch vor uns"
- 2. Teil: "Hört auf mit diesem Quatsch. Ich war im Warschauer Ghetto"