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Deutscher Afghanistan-Roman: Geheimnisvolle Schönheit

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Deutscher Afghanistan-Roman Das Klischee wird am Hindukusch verteidigt

Taliban und Bundeswehr, Verrat und Familienfehden: Linus Reichlins Afghanistanbuch "Das Leuchten in der Ferne" hätte der große Gegenwartsroman des Frühjahrs werden können. Doch der Schriftsteller verstrickt sich in Abenteuerklischees à la Karl May.

So ist sie, die Welt, in der Männer noch Männer sind: Überall lauern Gefahren, überall lauern Frauen. Der eine Abenteurer tritt auf eine Mine, der andere auf einen Skorpion. Den weit gereisten Reporter Moritz Martens erwischt das Schicksal im Warteraum eines Berliner Bürgeramts. Da sieht er sie: Anmutig bewegt sie sich, ihr schwarzes Haar glänzt wie Seide, große dunkle Augen, voller Mund, kleine, schmale Nase. Wer so aussieht, muss ein Geheimnis haben. Und das hat sie auch. Noch im Warteraum lädt die Schönheit, sie heißt Miriam Khalili, den ihr zuvor völlig unbekannten Martens zum Abendessen ein: "Es gibt Spaghetti Carbonara, ich mache sie ohne Sahne."

Gut zu wissen, es hätte ja sein können, dass Moritz Martens an einer Lactoseunverträglichkeit leidet. Doch nein, Martens ist ein Mann der Genüsse, wie ihn sich das "Slow Food"-Journal nicht besser hätte ausdenken können: Aus Schinkenwurst schmeckt er den Sellerie-Anteil heraus, am Fisch stört ihn zu viel Estragon und wenn er Wein trinkt, dann nicht irgendeinen billigen Roten, sondern einen guten Riesling. Als Martens abends in Khalilis Kreuzberger Wohnung eintrifft, schlägt sie ein Geschäft vor: Sie bietet ihm den Stoff für eine erstklassige Reportage, er sorgt für einen Abnehmer und dafür, dass sie als Fotografin mitkommen kann. Martens ist einverstanden. Jetzt kann das Abenteuer seinen Lauf nehmen - und damit ein Roman, der eines der interessantesten Bücher des Frühjahrs hätte werden können.

Deutschsprachige Schriftsteller haben nach einigen Jahren, in denen man hierzulande bevorzugt historische Stoffe bearbeitet hatte, die Gegenwart wiederentdeckt: So schrieb Thomas Melle in "Sickster" über Jungmanager, Rainald Goetz in "Johan Holtrop" über einen Konzern mit starken Ähnlichkeiten zu Bertelsmann, Jan Peter Bremer über das Leben in prekären Verhältnissen. Im Frühjahr 2013 folgen Autorinnen wie Lisa Kränzler und Inger-Maria Mahlke mit ähnlich realitätsnahen Stoffen. Linus Reichlin hätte sie mit "Das Leuchten in der Ferne" alle übertreffen können. Der in Berlin lebende Schweizer ist bekannt für Kriminalromane, die sich nicht wie platte Krimis lesen ("Er"). Sein neuer Roman ist ein Buch über Schuld, Sühne und Erlösung - ein Buch über den Krieg in Afghanistan.

Schwindel aufgesessen

Ohne Khalilis Referenzen als Fotografin zu prüfen oder gar die Plausibilität des Reportagestoffs, den sie ihm zusammen mit der Carbonara aufgetischt hat, lässt sich Martens, immerhin Starreporter, der in seinen besten Tagen im "New Yorker" veröffentlichte, auf das Geschäft ein. Er überzeugt einen befreundeten Chefredakteur, ihm 10.000 Dollar in bar mitzugeben - Interviewhonorar für die Hauptperson ihrer Geschichte: Eine Afghanin, die, verkleidet als Mann, für die Taliban kämpft.

Erst in Afghanistan wird Martens klar, was der Leser längst geahnt hat: Die Schönheit aus dem Bürgeramt ist gar keine Fotografin, sie hat nicht einmal eine richtige Kamera. Und nach Afghanistan reist sie nicht einer Reportage wegen - sondern aus einem viel existentielleren Grund. Martens ist einem Schwindel aufgesessen. Und Reichlin hat sich in der Gattungsmechanik des Abenteuerromans verstrickt.

Es hätte in diesem Buch um das Verhältnis der Deutschen zum Krieg in Afghanistan, um die dort stationierten Bundeswehrsoldaten, um einen Europäer unter Talibankämpfern gehen können - Reichlin lässt dieses Potential ungenutzt. Er interessiert sich kaum für die politischen Implikationen seines Stoffs, und schon gar nicht für die Figuren, auf die Martens in Afghanistan trifft - seien es westliche Soldaten oder Taliban. Die wenigen im Bundeswehr-Camp spielenden Szenen wirken derart stereotyp, dass man nicht weiß, was vorgestanzter ist: Die Floskeln, mit denen der deutsche Oberst Seegemann seinen Einsatz rechtfertigt, oder Reichlins literarische Beschreibung des Militäralltags. Ähnlich platt ist die Darstellung der Afghanen. Reichlins erzählerische Aufmerksamkeit gilt - wie in allen anderen Passagen - der Schilderung kulinarischer Details.

Exotismus und Geschlechterklischees

Wie in einem Western ist der Militärposten lediglich Zwischenstation: Ausgangspunkt für Martens und Khalili auf ihrem Weg in die Welt der Wilden, die bei Karl May Apachen, bei Linus Reichlin aber Taliban heißen. Karl May nahm sich die erzählerische Freiheit, über den Wilden Westen zu schreiben, ohne je in den USA gewesen zu sein - bei Linus Reichlin wird diese Freiheit am Hindukusch verteidigt.

Afghanistan ist in diesem Buch fremdländisch wirkende Kulisse für eine Erzählung mit den Mitteln des Abenteuerromans des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Kaum ein Stereotyp des Exotismus und kaum ein Geschlechterklischee wird dabei ausgelassen. Mag der weiße Mann in der Fremde auch auf grausame, ihm intellektuell unterlegene Männer stoßen, auf Verrat, Vergewaltigung und Familienfehden. Entscheidende Figur in diesem Buch ist eine Frau. Nur sie kann ihn befreien. Erleuchtet kehrt er heim.

Und hat fortan eine große Geschichte zu erzählen. Sei es an der Bar oder im Bürgeramt, dort eben, wo Männer noch Männer noch Männer sind - bis irgendwann eine Frau kommt und sie hineinzieht in das nächste große Abenteuer.

Zuletzt auf SPIEGEL ONLINE rezensiert: Lisa Kränzlers "Nachhinein", Alexandre Lacroix' "Kleiner Versuch über das Küssen", Georges Simenon, ausgewählte Romane in 50 Bänden, Wsewolod Petrows "Die Manon Lescaut von Turdej", Tony Judts "Nachdenken über das 20. Jahrhundert", Birk Meinhardts "Brüder und Schwestern" und Tom Wolfes "Back To Blood".

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