Lisa Kränzlers "Nachhinein" Rechts Standpauke, links Arschvoll

Schriftstellerin Lisa Kränzler: "Vollgesogen mit FALSCH"
Ein kleines Nest im Süden, hier ist Normaldeutschland: Auf der einen Seite der Straße wohnt die Erzählerin, sie heißt Lotta. Oder Luisa. Auf der anderen Seite wohnt Jasmin oder Celine oder Justine. Die Erzählerin will sich nicht festlegen, festgelegt ist ja schon alles andere. Hier die Akademikermutter, dort die Arbeitermutter. Zwei Welten, ein Alltag, unbedingte Härte im Kontrast: "Hüben Lehrplan, drüben Schichtplan; da Eigenheim, dort Mietwohnung; rechts Standpauke, links Arschvoll. Frischobst und Frischluft und Kompost im Osten, Dosen und Kippen und Ascher im Westen."
So beschreibt Lisa Kränzler das in ihrem neuen Buch "Nachhinein", mit dem die 1983 geborene bildende Künstlerin und Autorinfür den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert ist. Nach "Export A" ist "Nachhinein" Kränzlers nächster Coming-of-age-Roman, er ist genauso unsentimental und bitter wie das Debüt. Und genauso gut, mindestens. "Nachhinein" erzählt wie der Vorgänger unter anderem die Geschichte einer Vergewaltigung, und nicht nur deswegen ist dieser unromantische Roman einer Jugend ein radikaler Anti-"Tschick".
Es geht um die Freundschaft zweier Mädchen, die in denkbar unterschiedlichen Milieus aufwachsen und zunächst spielerisch leicht Klassenschranken überwinden. Es ist eine Art nachgeschobene Empathie, mit der sich die Ich-Erzählerin an die Vorgänge von einst und die so andersartige Freundin erinnert: die gemeinsamen Nachmittage im Wald, das gemeinsame Entdecken der Sexualität, der gemeinsame Weg zur Schule. Dann der Riss, als nur sie aufs Gymnasium geht. Aus zweien werden zwei einzelne, und während die behütet aufwachsende Bürgertochter sehnsüchtig auf die Pubertät wartet und das Erblühen ihres Körpers, wird die andere von ihrem Vater missbraucht.
Kein Entrinnen
Die Erfahrungswerte der beiden Heranwachsenden fallen endgültig auseinander: Diese fährt mit ihren Eltern sechs Wochen nach Spanien, jene geht in ihrem Unterschichtenzuhause ein. Sie muss sich eine hohle Nuss schimpfen und vom eigenen Bruder begrapschen lassen - Schulversagerin, die sie ist; ihr Schicksal ist zum Gotterbarmen und wirkt doch nie wie das Stereotyp einer Deklassierten. Für das Ungeheuerliche findet Lisa Kränzler eine kraftvolle und originelle Sprache, man liest sie trotzdem nicht gerne: "Liegen bleiben. Immer nur liegen bleiben, auf feuchten Laken, vollgesogen mit FALSCH, angstverklebt, hassverkrustet, Glibbern zwischen ihren Beinen. Wunde, dunkle Gänge, angefüllt mit tausend Sporen. Sporen, die ihr Inneres befallen, die vielleicht Schichten bilden, grau-grüne, flaumige Schichten, wer weiß."
Der Freundin kann das traumatisierte Mädchen nicht begreifbar machen, was mit ihm geschieht. Deswegen reißt das Band der beiden Blutsschwestern vollends, und die Grausamkeit der Jungen zeigt sich wieder einmal in ihrer Ignoranz: Als die Kameradin nach einem Selbstmordversuch in der Psychiatrie landet, verschanzt sich die, die ihr helfen müsste, in Egoismus und Selbstbezogenheit.
Die Erzählerin von "Nachhinein" ist schlauer als ihr jüngeres Ich, aber sie dichtet dieser eigenen moralischen Schrumpfversion gerade kein Wissen an, das diese nicht hat. Genau das gibt der Erfahrung des Mädchens eine existentielle Wucht. Aus dem eigenen Versagen gibt es kein Entrinnen, auch nicht im Nachhinein. Nur manchmal stattet Kränzler ihre Heldin mit einem Reflexionsniveau aus, das Heranwachsende so eigentlich nicht haben, das ist freilich oft ein erzähltheoretisches Problem von Entwicklungsromanen.
Am Ende ist "Nachhinein" auch eine Selbstanklage des standesbewussten, blasierten Bürgertums. Also der bildungsbesoffenen Elite ("Wer vor 20 oder nach 20.15 Uhr schon oder noch immer fernschaut, ist ein Prolet. So viel steht fest."), die sich schon immer so gut auf die Distanzwahrung zu den Unterprivilegierten verstanden hat.
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