Literaturnobelpreisträger Mo Yan Monströse Kinderjagd

Umstritten wie zuletzt kein anderer Literaturnobelpreisträger, zeigt Mo Yan in seinem neuen Roman "Frösche", dass er dem Westen näher steht, als man glaubt. Mit burlesken Einlagen erzählt er von einer Abtreibungsärztin. Ohne Hilfe eines anderen Preisträgers wäre das Buch kaum fertig geworden.
Kinder in China: Gleichlautendes Schriftzeichen für Frosch

Kinder in China: Gleichlautendes Schriftzeichen für Frosch

Foto: CHINA NEWSPHOTO/ REUTERS

Manche Literaturnobelpreisträger werden bejubelt, andere von der Öffentlichkeit ignoriert. Selten, wie im Fall Tomas Tranströmers, 2011 ausgezeichnet, kommt es sogar vor, dass das Werk eines Lyrikers überraschend auf der Bestsellerliste auftaucht - kein Preisträger aber ist in den vergangenen Jahren so skeptisch aufgenommen worden, wie der Chinese Mo Yan.

Das mag auch liegen, dass, als Mo Yan 2012 den Nobelpreis erhielt, sein Werk zumindest in Deutschland wenig bekannt war, seine KP-Mitgliedschaft, sein Auftritt in einer offiziellen Delegation bei der Frankfurter Buchmesse dagegen kaum den Eindruck erwecken konnten, dass es sich bei ihm um einen Regimekritiker handelte - und dass zudem prominente Oppositionelle, darunter der Friedenspreisträger Liao Yiwu und der Künstler Ai Weiwei, die Vergabe des Preises kritisierten.

Mo Yans Roman "Frösche" im chinesischen Original 2009 erschienen und damit deutlich jünger als sein auch hierzulande bekannte Epos "Rotes Kornfeld" aus den Achtzigern, gibt nun auf die einzig angemessene Art - mit den Mitteln der Literatur - die Antwort auf die Frage, was von diesem Literaturnobelpreisträger zu halten sei.

Vollstreckerin der Parteilinie

Die Handlung von "Frösche" erstreckt sich über fünf Jahrzehnte. Eingebettet in Briefe an einen japanischen Schriftsteller namens Yoshito Sugitani erstattet der Ich-Erzähler Bericht. Im Mittelpunkt steht er selbst - und ebenso sehr seine Tante Gugu, Hebamme des Bezirks und bald Vollstreckerin offiziellen chinesischen Ein-Kind-Politik.

Dieser Rahmen ist autobiografisch: Im Nachwort berichtet Mo Yan, dass er 2002 Besuch erhalten habe. Es war der japanische Literaturnobelpreisträger Kenzaburo Oe. Ihm erzählte Mo Yan von seiner eigenen Tante, die tatsächlich als Frauenärztin gearbeitet hatte, und der Idee, einen Roman über sie zu schreiben. Oe riet zu - und erkundigte sich, wie indirekt im Buch festgehalten, immer wieder, ob das Projekt Fortschritte mache. Andernfalls hätte Mo Yan das Buch wohl gar nicht zu Ende geschrieben.

Seine Romanfigur Gugu ist eine energische Verfechterin der Parteilinie - und doch alles andere als ein theoretisch denkender Mensch: Ihr Verständnis von Kommunismus ist allein an der Durchsetzung von Vorgaben orientiert. Sie ist die typische Vertreterin eines autoritären Systems, dass es eben nicht nur in China gibt, sondern weltweit, auf allen gesellschaftlichen Ebenen: In Staaten, in Firmen, in Familien.

So erweist sich Gugu als universale Figur, vielschichtig und widersprüchlich: Zupackend, wenn es um pragmatische Hilfeleistung geht, vermessen in der Anmaßung, das Richtige zu tun. Privat selbst Leidtragende größerer politischer Entwicklungen, kämpft sie als Vertreterin des Fortschritts für die Verbesserung der Lebensverhältnisse - und ist doch für individuelle Katastrophen verantwortlich.

Privatklinik für Leihmütter

Auch die Darstellung des Ich-Erzählers profitiert von Mo Yans Methode, das Regime nicht pauschal anzuklagen, keine schuldbeladenen Negativcharaktere zu zeichnen, sondern mit zurückhaltender, leicht fatalistischer Skepsis das schleichende Versagen des Einzelnen zu schildern. Der Ich-Erzähler mag feige und unentschlossen sein. Mo Yans Blick auf ihn bleibt ebenso human, wie der auf die Entwicklung der Gesellschaft.

An deren vorläufigem Ende steht nach der Jahrtausendwende im neuen China eine ganz andere Art der Familienplanung: Deren Kehrseite ist nicht mehr die grausame Durchsetzung von Abtreibungen, sondern die ebenso grausame Realität hinter der nobel wirkenden Fassade einer Privatklinik für Leihmütter. Hier erklärt sich schließlich auch der Titel des Buchs: Die chinesischen Schriftzeichen für Frosch und Kind werden gleichlautend ausgesprochen.

Der Tonfall des Buchs ist lebendig und schwungvoll, bäuerisch burlesk. Wie einem Volkstheaterstück gibt ein Wort das andere, entwickelt die Geschichte, durchgehend angesiedelt in der chinesischen Provinz Gaomi, sich stürmisch, turbulent, mitunter fast grotesk: In einer an einen Actionfilm erinnernden Schlüsselszene kommt es zu einer Verfolgungsjagd zu Wasser - nur, dass die nicht, wie bei James Bond, einem monströsen Verbrecher gilt, sondern einem einzigen, kurz vor der Geburt stehenden Kind, das die Abtreibungsärztin Gugu in letzter Sekunde noch zu fassen kriegen will.

Das Kind kommt schließlich doch lebend zur Welt. Mo Yans Sympathie gilt der Mutter, nicht der verblendeten Verfechterin der Parteidisziplin.

Nach der Lektüre von "Frösche" muss man sich fragen, ob Mo Yan in seiner Weltsicht dem Westen nicht viel näher ist, als seine Kritiker hierzulande glauben: Setzt er doch auf Vergebung der Schuld und die Liebe zum werdenden Leben - Tugenden, die man gemeinhin mit einem ganz anderen Wertesystem verbindet als dem des Kommunismus. Dem Christentum.

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