Booker-Prize-Gewinnerin Bernardine Evaristo »In meinen Zwanzigern warf ich noch Ziegelsteine«

Bernardine Evaristo beim Literaturfestival in Cheltenham
Foto: David Levenson / Getty ImagesSPIEGEL: Frau Evaristo, in Ihrem neuen Roman »Mädchen, Frau etc.« beschreiben Sie die Leben von elf Frauen und einer Non-binary-Person. Alle sind irgendwie miteinander verbunden, obwohl sie in verschiedenen Jahrhunderten unter ganz unterschiedlichen Umständen leben, die eine Karrierefrau ist, die andere Bäuerin. Ein ambitioniertes Projekt.
Evaristo: Für mich ist es ein Buch darüber, wie Schwarze Frauen vielleicht die Welt sehen könnten. Ich kann niemals eine Geschichte erzählen, die erwartbar ist. Ich will ehrgeizig und experimentell sein und meinen politischen Ansichten treu bleiben.
SPIEGEL: Was sind das für Ansichten?
Evaristo: Meine Haltung besteht darin, Stimmen nach draußen tragen, die normalerweise nicht stattfinden. Mich zwischen den Zeiten und Räumen zu bewegen, zwischen Geografie und Geschichte – das ist, was mich interessiert
SPIEGEL: Sie haben versucht, Ihrem Roman auch stilistisch eine sehr eigene Stimme zu geben, haben sich für eine Schreibweise entschieden, die wenige Punkte und Kommas kennt, ein bisschen wie Poesie angelegt ist. Sie nennen das »Fusion Fiction«.
Schwarze Menschen ist (anders als weiße Menschen) eine Selbstbezeichnung. Es geht dabei nicht um eine Eigenschaft, die auf die Hautfarbe zurückzuführen ist, sondern um eine von Rassismus betroffene gesellschaftliche Position. Wir übernehmen hier diese politische Selbstbezeichnung und schreiben »Schwarz« deswegen groß.
Evaristo: Ich habe den Begriff erfunden, als das Buch fertig war. Dieser Stil war auch für mich neu. Es ist eine Stimme, die aus 40 Jahren des Schreibens hervorgetreten ist; eine Stimme, die immer anders sein wollte, Dinge anders machen wollte; eine Stimme, die nicht in der britischen Gesellschaft akzeptiert wurde, als sie jung war und sich ganz sicher nicht mit britischer Literatur identifizierte. Ich dachte früher, dass ich nicht dazugehöre.
SPIEGEL: Das ist mittlerweile anders. Sie haben in den Achtzigerjahren die erste Theaterkompanie Schwarzer Frauen mitbegründet und 2019 den Booker Prize gewonnen, den wichtigsten britischen Literaturpreis.
Evaristo: Ich liebe es, dass viele Leute, die meine Bücher normalerweise nicht aus dem Regal herausgreifen würden, tatsächlich ein Buch von mir lesen – und es auch noch ein radikal experimentelles, Schwarzes, britisches Buch ist, an dem nichts konventionell ist.
SPIEGEL: Haben Sie eine Erklärung dafür?
Evaristo: Ich habe den Booker Prize gewonnen!

Booker Prize 2019: Bernardine Evaristo mit Schriftstellerin Margaret Atwood
Foto: SIMON DAWSON / REUTERSSPIEGEL: Aber »Mädchen, Frau etc« hat sich auch sehr gut verkauft. Warum spricht gerade dieses Buch so viele Menschen an?
Evaristo: Obwohl es so experimentell ist, ist es leicht lesbar und Menschen können auf verschiedenen Ebenen eine Verbindung herstellen, es gibt darin zum Beispiel viele unterschiedliche Mutter-Tochter-Beziehungen. Sie können sich damit auch identifizieren, wenn sie aus einer weißen Arbeiterklasse kommen. Oder sie erkennen sich in den Erfahrungen der Frauen wieder. Einmal kam ein 80-jähriger Mann auf mich zu und sagt mir, dass er sich auch darauf beziehen könne. Das ist wunderbar, denn letztendlich geht es darum, wer wir als Menschen sind, oder? Wenn all diese künstlichen Barrieren wie Race und Gender sich im Rest auflösen und die Lesenden nur in der Geschichte involviert sind, ist das eine wunderbare Sache.
SPIEGEL: Kann darin nicht auch eine Gefahr liegen? Die Glorifizierung einer vermeintlich »farbenblinden« Welt, in der alle gleich sind? Obwohl es ja real viele Ungerechtigkeiten gibt?
Evaristo: Es wäre sehr schwer, dieses Buch zu lesen und sich nicht mit einer in Großbritannien jahrhundertelangen Realität des Rassismus auseinandersetzen zu müssen. Ich glaube nicht, dass Leute dieses Buch lesen und es schaffen, sich gar nicht mit diesen Themen zu beschäftigen.
SPIEGEL: Hatten Sie selbst Angst, sich einer bestimmten Figur anzunähern?
Evaristo: Für mich war es wichtig, dass auch ein Charakter wie Morgan auftaucht, eine Person, die das Spiel, sich für ein Geschlecht zu entscheiden, erst gar nicht mitspielt. Ich hatte keine Angst, aber ich wusste, es handelt sich um ein sensibles Thema. Als Schriftstellerin dachte ich: Ich habe völlige Freiheit, ich darf aus der Perspektive schreiben, die ich will. Es war für mich wichtiger, die Figur aufzuschreiben als besorgt zu sein und deshalb auf sie zu verzichten. Also habe ich recherchiert, mit Menschen gesprochen, die non-binary sind.
SPIEGEL: Es wird derzeit sehr viel darüber diskutiert, wer über was schreiben darf. Sie scheinen alles richtig gemacht zu haben.
Evaristo: Wenn wir darüber sprechen, es richtig zu machen, setzt das immer eine Zustimmung voraus. Das wollte ich aber nicht erreichen. Wenn es sich für Menschen, die trans* oder non-binary sind, richtig anfühlt, dann ist das toll. Und bis jetzt scheint dies der Fall zu sein.
SPIEGEL: In Ihrem Buch beschreiben Sie auch eine lesbische gewaltvolle Beziehung. In einem Interview haben Sie dazu gesagt, es sei Ihnen wichtig gewesen, sie als toxisch zu erzählen. Warum?
Evaristo: Ich war eine Lesbe in meinen Zwanzigern und spreche da aus Erfahrung. Es stellt etwas dar, über das wir nicht sprechen: queere Beziehungen, die toxisch sind. Wir reden vielleicht in unseren Blasen darüber, weil wir versuchen, uns zu schützen. Aber nicht in größerem Maßstab. Es gibt in der Literatur oft dieses Gefühl, dass lesbische Beziehungen nicht von Machtdynamiken durchsetzt sind wie heterosexuelle, sondern alles nett, gemütlich und knuddelig ist.
SPIEGEL: Eine Ihrer Figuren, Amma, besitzt eine radikale Vergangenheit, hat sich zum Zeitpunkt der Erzählung aber als erfolgreiche Dramatikerin im Londoner Kulturszene etabliert – und macht sich Sorgen, etwas zu verlieren, weil sie vom Mainstream umarmt wird. Teilen Sie diese Angst?
Evaristo: Nein, ich liebe es. Es ist auch nicht so, dass ich aus einer Underground-Literatur-Szene heraus den Booker gewonnen hätte. Es war zwar ein langsamer Weg, aber ich bin auch nicht plötzlich im Mainstream angekommen. Ich hatte bereits die letzten zehn Jahre meines Lebens hohe Positionen inne, bin Professorin, ich schreibe für große Zeitungen und so weiter. Das ist schon Establishment. Alles, was ich mache, tue ich zu meinen eigenen Bedingungen. Deswegen fühle ich mich völlig berechtigt zu sagen, dass ich glücklich bin, Teil des Establishments zu sein. Aber ich bringe meine eigene Politik ein und ändere es von innen heraus. In meinen Zwanzigern warf ich noch Ziegelsteine, bis mir klar wurde, dass es dich nicht wirklich irgendwohin bringt.
SPIEGEL: Was bringt einen dann weiter?
Evaristo: Du musst innerhalb der Höhle des Löwen sein und dort deinen Platz im Raum einnehmen. Das habe ich getan. Ich gehe aber nicht mit schrecklichen Politikerinnen und Politikern essen, sondern bleibe ich selbst und mache immer noch meinen Mund auf, spreche über Dinge, die mir wichtig sind.
Preisabfragezeitpunkt
01.03.2021 21.24 Uhr
Keine Gewähr
SPIEGEL: Bedeutet Anerkennung eine Art von Freiheit?
Evaristo: Dass mir jetzt ein gewisser Respekt entgegengebracht wird, hilft sicherlich dabei – schon allein die Anzahl der Follower, die ich auf Social Media bekommen habe nach dem Booker Prize. Sie verfolgen aufmerksam, was ich sage. Die Frage ist immer: Wie gehe ich mit dieser machtvollen Position um? Nehme ich den Platz ein, weil es für mich nützlich ist? Oder öffne ich Türen für andere Menschen? Ich habe mich immer für die zweite Möglichkeit entschieden.

Black Lives Matter Demo in London, 2020
Foto: Alberto Pezzali / APSPIEGEL: Hilft dabei, dass die Bücher von People of Colour sich im Moment besonders gut verkaufen?
Evaristo: Letzten Sommer, als Black Lives Matter in so großem Ausmaß von allen wahrgenommen wurde, gab es plötzlich viele Bücher von Schwarzen Autorinnen auf der Bestsellerliste. Das war ein historischer Moment, es war nie vorher passiert. Mein Buch war fünf Wochen lang an der Spitze und auch Reni Eddo-Lodges Buch »Warum ich nicht länger mit Weißen über Hautfarbe spreche« – so wie viele andere Bücher von Schwarzen. Das ist großartig. Auch wenn es durch Black Lives Matter ausgelöst wurde, zeigt es, dass es einen Appetit auf Bücher von Schwarzen Autor*innen gibt und sie sich auch verkaufen. In der Vergangenheit gab es viel Tokenism; also ein, zwei Autorinnen, die Erfolg hatten und alle dachten, das reiche und sei okay so. Aber natürlich gibt es auch heute noch viele Probleme, die wir lösen müssen, um die Verlagswelt inklusiver zu gestalten.
SPIEGEL: Sie veröffentlichen jetzt Schwarze Stimmen aus Vergangenheit wieder. Warum?
Evaristo: Der Verlag Penguin hat mich gefragt, ob ich Interesse daran hätte, einige Bücher von anderen Schriftstellerinnen und Schriftstellern zu veröffentlichen; wahrscheinlich, weil ich mich die ganze Zeit beschwert habe. Schwarze Autorinnen, die ein Buch veröffentlichen, sind vermeintlich immer die Ersten. Es ist immer das Erste, das Beste und das Neueste; der Rest der Geschichte wird ignoriert. Bei weißen Schriftstellerinnen wissen jedoch alle, dass es eine Literaturgeschichte gibt, einen Kanon.
Anmerkung der Redaktion: In einer früheren Fassung dieses Interviews wurde der britische Literaturpreis als Man Booker Prize beschrieben. Seit 2019 heißt der Preis allerdings nur noch Booker Prize. Wir haben die Bezeichnung korrigiert.