Roman über Bob-Marley-Attentat "Weil ich Jamaika erlebt habe, ängstigt mich Waffengewalt nicht"

Sein Roman "Eine kurze Geschichte von sieben Morden" ist über 800 Seiten dick und dreht sich um den Versuch, Bob Marley zu töten: Autor Marlon James über Homosexualität in Jamaika, afrikanische Fantasy und Meinungsfreiheit.
Autor Marlon James

Autor Marlon James

Foto: Felix Clay
Zur Person

Marlon James wurde 1970 in der jamaikanischen Hauptstadt Kingston geboren. Er wuchs als Sohn eines Anwalts und einer Polizistin behütet auf. Er studierte Literatur und Politik, arbeitete in einer Werbeagentur und machte mit Mitte 30 den Versuch, in einem Kloster seine unterdrückte Homosexualität zu exorzieren. Stattdessen schrieb er seinen Debütroman "John Crow's Devil", der 78-mal abgelehnt wurde, bevor ein kleiner New Yorker Verlag zugriff. Er arbeitet als Lehrer für Kreatives Schreiben in Minnesota. Sein dritter Roman, "Eine kurze Geschichte von sieben Morden", wurde mit dem Man Booker Prize ausgezeichnet, einem der wichtigsten Preise für englischsprachige Literatur. In einem Essay für das "New York Times Magazine"   hatte er mit 44 Jahren sein öffentliches Coming-out. Sein nächstes literarisches Projekt ist eine Fantasy-Trilogie, die im Afrika des 12. Jahrhunderts spielt.

SPIEGEL ONLINE: Herr James, in ihrem neuen Roman bildet der Attentatsversuch auf Bob Marley in Kingston 1976 den zentralen Höhepunkt. Warum wollten Sie sich mit diesem realen Ereignis erzählerisch befassen?

James: Ich habe das nicht im Vorhinein geplant. Mit allen Charakteren in "Eine kurze Geschichte von sieben Morden" war es, wie wenn man an einer Unfallstelle vorbeikommt: Man sieht eine Menschenansammlung, alle schauen irgendwohin, aber man erkennt zunächst nicht, worauf. Das Marley-Ding kam erst nach anderthalb Jahren Arbeit. Da wurde mir klar, dass es das Zentrum einer Reihe von Ereignissen sein würde. Aber deshalb geht der Roman auch noch mehr als zehn Jahre nach seinem Tod weiter: Marley war eine Art Auslöser für ein Buch, das aber letztlich nicht von ihm handelt.

SPIEGEL ONLINE: Sie selbst wuchsen in den Siebzigern in einem eher bürgerlichen Teil Jamaikas auf. In ihrem Buch berichten Sie aus der Perspektive der Rastafari-Rächer, die sich auf die Suche nach den Attentätern machen, aber ebenfalls aus der eines US-Journalisten, der über diese Gangmitglieder berichtet. Wem fühlen Sie sich näher?

James: Ich fühle mich beiden nicht besonders nah. Muss ich aber auch gar nicht: Als Romanautor kommt es auf eine Mischung aus Vorstellungskraft und Einfühlungsvermögen an. Bei dem Gang-Anführer Josey Wales kann ich mich damit identifizieren, dass er konstant unterschätzt wird. Da ich ja aus der sogenannten Dritten Welt komme, versuchte mir mal einer zu erklären, was ein Motorrad ist. Andere sind erstaunt, dass wir schon Farbfernsehen hatten - dabei hatten wir Kabel-TV, bevor es das in Europa gab. Es gibt Argumente dafür, über Selbsterlebtes zu schreiben. Aber es gibt auch viele Argumente für unterschiedliche Sichtweisen. Und für Distanz zu den Figuren.

Zum Buch

Der Roman "Eine kurze Geschichte von sieben Morden" ist weder kurz, noch beschränkt sich die Zahl der Morde, die darin geschildert werden, auf sieben. Doch der historisch belegte Anschlag, in dem der erste Teil des Romans kulminiert, misslingt: Bob Marley, damals schon ein Weltstar des Reggae, überlebt das Attentat vom 3. Dezember 1976 und tritt bei dem "Smile Jamaica"-Konzert auf, das die Verschwörer aus politischen Gründen zu verhindern suchten. Marlon James' Buch folgt den Geschichten der Attentäter über mehrere Jahre, aus zahlreichen Perspektiven und in verschiedenen Sprachebenen - ein großer Roman.

SPIEGEL ONLINE: Derzeit werden häufig Texte gefeiert, die sehr klar entlang des Lebens des Autors erzählt werden - wie zum Beispiel Karl Ove Knausgårds Bücher.

James: Ich schreibe auch ziemlich viel über mich selbst - aber nur in Tagebüchern, die ich erst rausbringe, wenn ich 60 bin und alle meine Feinde tot. Ich bin wirklich beeindruckt davon, wie Knausgård uns dazu bringt, neu zu definieren, was nebensächlich und was bedeutsam ist. Er hat das komplett umgekehrt. Toll! Aber noch sind mir die Themen nicht ausgegangen, die nichts mit mir zu tun haben und über die ich schreiben möchte.

SPIEGEL ONLINE: Zwischen fiktionalem Schreiben und privaten Tagebüchern schreiben sie halb-öffentlich recht ausführlich bei Facebook und auch immer mal wieder Magazinbeiträge. Wann setzen Sie diese Formen ein?

James: So ziemlich das Allerletzte, über das ich bei Facebook schreiben möchte, ist Literatur. Meistens schreibe ich da über Musik. Die meisten meiner längeren Essays handeln von mir selbst. Ich habe kürzlich einen geschrieben, der hauptsächlich davon handelt, wie schwer es mir fällt, über meine Mutter zu schreiben. Aber ich habe nicht vor, einen Roman über einen Typen zu schreiben, der keinen Draht zu seiner Mutter findet. Das überlasse ich Jonathan Franzen.

SPIEGEL ONLINE: Lassen sich Fiktion und Ihre eigene, private Analyse immer eindeutig trennen?

James: Was meinen Sie?

SPIEGEL ONLINE: Sie arbeiten gerade an einer Fantasy-Romanreihe, die Sie als "afrikanisches ' Game of Thrones'" bezeichnet haben. Geschichten aus Afrika würden nicht oft genug erzählt. Gleichzeitig sprechen Sie in Ihren Essays oft über die Position des schwarzen Autors in der amerikanischen Gesellschaft. Sehen Sie da keinen Zusammenhang?

James: Diese Afrika-Geschichte entstand aus einem Streit, es ging mal wieder um Repräsentation in Fantasy, nämlich darum, dass der Cast in der "Hobbit"-Verfilmung komplett weiß war. Ich sagte, wenn Ihr so stark auf eurem Gebietsanspruch des europäischen Erzählens beharrt...

SPIEGEL ONLINE: Europäisches Erzählen?

James: Ja, was auch immer das sein soll, wenn man bedenkt, wie stark die europäische Erzählweise von türkischem und arabischem Erzählen beeinflusst ist - aber lassen Sie uns davon gar nicht erst anfangen. Jedenfalls sagte ich mir: Dann drehe ich es eben radikal um und schreibe eine afrikanische Geschichte.

SPIEGEL ONLINE: Wovon handelt die?

James: Ich liebe Magie und Elfen und Dämonen und Kobolde und Schatzsuchen und Monster und Helden - und jede Kultur der Welt kennt sie. Ich machte da so meine Entdeckungen, die Teil meines afrikanischen Erbes sind. So ähnlich ging es bestimmt auch Tolkien, als er "Herr der Ringe" schrieb und all diese keltischen, britischen, nordischen und germanischen Mythologien wiederentdeckte. Ich war so fasziniert von den alten Mythen, dass sich die Geschichte fast von selbst zu schreiben begann. Es ist die spaßigste und anstrengendste Arbeit, die ich je gemacht habe. Hunderte von Seiten - und zwar natürlich nicht bloß, um in einem Streit recht zu behalten.

SPIEGEL ONLINE: Mittlerweile leben Sie in den USA. Sie haben geschrieben, dass Sie erst dort für sich die Möglichkeit fanden, offen als schwuler Mann zu leben. Sind Sie den Vereinigten Staaten dankbar dafür?

James: Natürlich. Ich bin zwischenzeitlich wieder in Jamaika gewesen, und Jamaika hat sehr große Fortschritte gemacht. In den meisten Gegenden fühle ich mich sicher. Aber würde ich Hand in Hand mit einem Mann auf die Straße gehen? Nein! In den USA gibt es dagegen ein Gefühl von Freiheit. Und ich meine Freiheit nicht im großen Sinne, dass wir mehr Rechte haben. Sondern, dass ich mich nicht umschauen muss, ob die Luft rein ist, wenn ich jemandes Hand halten will. Wenn ich eine Straße oder einen Raum betrete, muss ich keine Gefahrenabwägung machen. Auch nicht, wenn ich etwas Queeres trage.

SPIEGEL ONLINE: Haben sich diese Gefühle geändert nach dem Anschlag auf den Nachtklub in Orlando?

James: Nein. Es besteht ein Unterschied zwischen einer terroristischen Attacke auf einen Nachtklub und einer Gesetzgebung, in der jemand wie ich illegal ist. Außerdem: Als jemand, der Jamaika in den Siebzigerjahren erlebt hat, ängstigt mich Waffengewalt nicht. Ich werde deswegen jedenfalls nicht weglaufen.

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James, Marlon

Eine kurze Geschichte von sieben Morden: Roman

Verlag: Heyne Verlag
Seitenzahl: 864
Für 6,99 € kaufen

Preisabfragezeitpunkt

26.03.2023 21.52 Uhr

Keine Gewähr

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SPIEGEL ONLINE: Von den Neunzigerjahren an gab es immer mal wieder Boykott-Initiativen, wenn jamaikanische Reggae- und Dancehall-Musiker auf Tour kommen wollten, die für ihre homophoben Texte bekannt waren. Befürworten Sie solche Aktionen?

James: Ist Hate Speech auch Free Speech? Das ist eine Frage, die sich jetzt auch in Amerika stellt, im Umgang mit Vertretern der Alt-Right. Sind Hassreden von der Meinungsfreiheit gedeckt? Wenn ein Jamaikaner singen will "Tod den Homosexuellen" oder ein Rechtsradikaler sagen will "Tod den Juden" - los, sagt es! Wenn du es schreiben willst - gut! Aber du verdienst dir damit nicht das Recht, dass es veröffentlicht wird. Und du verdienst dir nicht das Recht, damit im Konzertklub Geld zu verdienen. Das eine ist Meinungsfreiheit, das andere ist der Versuch, Kohle zu machen. Und es gibt kein verbrieftes Recht, mit irgendwas Kohle machen zu dürfen. Wenn ich dich daran hindere, Hass zu verspritzen bei einer öffentlichen Veranstaltung, für die jeder Karten kaufen kann, dann hindere ich dich daran, damit Geld zu verdienen. Aber ich hindere dich nicht an der Ausübung deiner Meinungsfreiheit.

SPIEGEL ONLINE: Wenn Hassreden im Privaten bleiben müssten, könnten Sie sich aber vielleicht weniger ausbreiten - und eventuell auch zu weniger physischer Gewalt gegen Homosexuelle führen.

James: Ich denke, dass Homophobie - und auch Rassismus - ernsthafte geistige Störungen sind. Wir hören in den Staaten oft, dass wir Fortschritte gemacht haben im Kampf gegen Rassismus und Homophobie. Aber man sollte keine Fortschritte dagegen machen - man sollte es stoppen! Wenn mein Kind Daumen lutscht - in Ordnung, ich warte drauf, bis es damit vorangekommen ist, es sich abzugewöhnen. Wenn mein Kind aber im Bus andere Leute schlägt, dann schnappe ich es mir und sage: Schluss jetzt! Und ein Verhalten zu verteidigen, zu dem man einfach "Stopp!" sagen sollte, finde ich einfach lächerlich.

SPIEGEL ONLINE: Rund um den Wahlsieg Donald Trumps kam die Forderung auf, dass Liberale sich mehr Mühe machen sollten, mit den Leuten auf dem Land oder im Rust Belt zu reden, den vermeintlichen Trump-Wählern. Auch in Deutschland sind in diesem Jahr Wahlen. Sollte man mit potenziellen AfD-Wählern das Gespräch suchen?

James: Ich glaube, wir reden viel zu viel über die Trump-Wähler, die letztlich genauso wählten, wie man es annehmen konnte. Warum kämpfen wir uns ab mit diesen Leuten? Mich interessieren viel mehr die Leute, die nicht wählten. Oder die Leute, die eine Wahl hatten und sich für Trump entschieden haben. Es waren eben nicht die Armen, Abgehängten, die das ermöglicht haben. Das Durchschnittseinkommen der Trump-Wähler bei den Vorwahlen lag bei 72.000 Dollar. Das sollten wir auch bedenken, wenn wir über den Aufstieg von rechtspopulistischen Bewegungen in Europa sprechen. Schaut nicht nur auf die Extremisten, es sind die vermeintlich Gemäßigten, die für die Entscheidung sorgen. Und diejenigen, die für sich sagen: Ich sehe hier nichts für mich - und gehe gar nicht wählen.

SPIEGEL ONLINE: Manche plädieren jetzt für einen linken Populismus, um diese Menschen zu erreichen.

James: Finde ich gut. In Amerika gab es diese Initiative "Rock the Vote", bei Ende der Achtziger Leute wie Madonna Werbespots machten. Und die funktionierten! Bill Clinton hätte niemals gewonnen ohne "Rock the Vote". Denn eine aktive Wählerschaft verängstigt die Konservativen. Sie brauchen Angst und Zynismus. Wenn sie ihre Anhänger zum Wählen und ihre Gegner zum Nichtwählen bewegen können, dann gewinnen sie. Sie brauchen dieses Klima der Angst. Wie damals in 1980 in Jamaika. Wie ich es in meinem Buch beschreibe. Das dürfen wir nicht aus den Augen verlieren.

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