
Mathematik-Genie Perelman: Die Sehnsucht nach der reinen Formel
Geschichte eines Genies Der seltsame Mathe-Mama-Mann
Eine Million Dollar lobte im Jahr 2000 das Clay Mathematics Institute für jeden Forscher aus, der eines der sieben sogenannten Millennium-Probleme löst. Doch kaum jemand in der Fachwelt glaubte wirklich daran, dass einer der Beweise, die teilweise seit Jahrhunderten ausstehen, tatsächlich geführt werden könnte.
Doch schon zwei Jahre später war es so weit: Ein Russe namens Grigorij Perelman veröffentlichte den ersten von insgesamt drei Artikeln zur Poincaré-Vermutung aus Jahr 1904. Deren Namensgeber Henri Poincaré selbst hatte sie nie beweisen können.
Bis dahin war Perelman, 1966 in Leningrad geboren, in Fachkreisen nahezu unbekannt. Nun gelang ihm "Der Beweis des Jahrhunderts", wie die russisch-amerikanische Autorin Masha Gessen Perelmans mathematische Großtat in ihrem gleichnamigen Buch nennt.
Sie zeichnet in ihrer Spurensuche, die gleichermaßen der Mathematik und ihrem exzentrischen Vertreter Perelman gewidmet ist, ein Bild der Gegenwart als postideologischem Zeitalter, in dem die Jagd nach der Poincaré-Vermutung wie eine nostalgische Erinnerung an große Abenteuer wirkt - und die Sphäre der Wissenschaft als letzte Bastion der unbeschadeten Sehnsucht.
Geometrisches Objekt ohne Loch
Bei der Poincaré-Vermutung geht es um ein geometrisches Problem, das die Experten über Generationen hinweg elektrisierte: Ein geometrisches Objekt ohne Loch kann immer zu einer Kugel umgeformt werden - und zwar nicht nur im Fall einer zweidimensionalen Oberfläche im dreidimensionalen Raum, sondern auch in höheren Dimensionen.
Mittels der Poincaré-Vermutung lassen sich Aussagen über die Beschaffenheit des Universums treffen. Für die Überprüfung von Perelmans Beweis brauchten die Experten zwei Jahre - nur um dann mit der Tatsache konfrontiert zu sein, dass Perelman weder die eine Million Dollar Preisgeld annehmen wollte, noch die ihm 2006 zuerkannte Fields-Medaille - eine Art Mathematik-Nobelpreis.
Die Fachwelt erbebte. Ausgerechnet ein russischer Einsiedler mit langen Haaren und Fingernägeln machte den Insiderclub einen kuriosen Augenblick lang für die Öffentlichkeit interessant. Perelman wies vor und nach seinem Coup die Avancen des akademischen Betriebs jedoch schroff zurück, er nahm nie den Ruf an eine amerikanische Elite-Uni an und zog sich weitgehend aus der Öffentlichkeit zurück.
Die Autorin Masha Gessen arbeitet als Journalistin unter anderem für den britischen "New Statesman", den "US News & World Report" und "Vanity Fair", sie ist Verfasserin der vielbeachteten Putin-Biografie "Der Mann ohne Gesicht". Mehr noch als diese scheint "Der Beweis des Jahrhunderts", im amerikanischen Original 2009 erschienen, ein Buch über jemanden, der nichts weniger will, als dass man ihm zu nahe kommt. Gesprochen hat sie mit Perelman nicht, seine Lebensgeschichte setzt sie aus Berichten und Erzählungen seiner Wegbegleiter zusammen - und schreibt: "Die Mathematik ist ein einsames Geschäft."
Perelman, Sohn und Bruder von Mathematikerinnen, war früh vertraut mit dieser speziellen Form des Einzelgängertums. In Mathe-Clubs und auf Mathe-Olympiaden zum geistigen Hochleistungssportler geformt, als Jude oft diskriminiert, hatte er das Glück, dass seine Förderer ihn schützten. Wie andere Mathematiker entkam Perelman durch die Wahl der Disziplin den Fallstricken des Sozialismus - in der Sowjetunion war die Logik vielleicht der einzige Bereich, in dem es widerspruchsfrei zuging.
Diffeomorphismen und Reskalierung
Gessen (und der Übersetzer Michael Müller) ließen sich bei ihrer Arbeit am Buch von Fachgelehrten unterstützen. Trotz Zitaten aus der Arbeit Perelmans ("Insbesondere hat der Ricci-Fluss, betrachtet im Raum der Riemann'schen Metriken modulo Diffeomorphismen und Reskalierung, keine nichttrivialen periodischen Orbiten") ist "Der Beweis des Jahrhunderts" kein wissenschaftliches Buch - sondern ein Buch über Wissenschaft und das, was sie mit den Menschen macht.
Gessen steht der Mathematik und ihren Protagonisten staunend und bewundernd gegenüber, enthält sich aber nicht einer medizinischen Vermutung: Der offenbar zu keinerlei Empathie und Charme fähige Meistermathematiker Perelman leidet ihrer Meinung nach am Asperger-Syndrom. Kollegen stieß er vielfach vor den Kopf, weil er seine Arbeit nicht genügend gewürdigt sah. Er will das Leben eines reinen Mathematikers führen - und tut das mittlerweile zurückgezogen bei seiner Mutter in St. Petersburg.
Perelman leidet nach Gessens Darstellung an den Zumutungen des Alltags. Sein Abschied aus der Gruppe der international vernetzten Zahlen-Nerds kann nur annäherungsweise gedeutet werden: Wo Mathematik das einzige Prinzip ist, erscheint jede Handlung indiskutabel, die Wissenschaft als Ware (wie im Falle des Millionenpreisgelds) sieht. Und wem Formeln alles bedeuten, für den ist die Welt nicht mehr als Oberfläche im Raum - erträglich nur als geometrisches Objekt.
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