Maxim Billers neuer Roman Lauter unsichere Kantonisten in dieser Familie

Szene aus dem tschechischen Spielfilm "Die Liebe einer Blondine" (1965)
Foto: ddp imagesMaxim Biller hat es in den drei Jahrzehnten, die er nunmehr im deutschen Literaturbetrieb mitmischt, kaum einem recht gemacht: nicht mit seinem ewigen Herumgekrittele am Zustand der deutschen Literatur. Und auch nicht mit seinen galligen feuilletonistischen Einwürfen, in denen er schon mal einer ganzen Generation, den 78ern, Erfahrungsarmut unterstellte.
Doch wo wäre die deutsche Literatur heute, ohne seine Anfang der Neunzigerjahre entfachte Realismus-Debatte? Wo, ohne all seine unbequemen Diagnosen und provokanten Thesen? Wahrscheinlich hätte sie noch immer "so viel Sinnlichkeit wie der Stadtplan von Kiel", wie er damals zu Recht befand.
Zuletzt, 2017, schmiss er als festes Mitglied des "Literarischen Quartetts" hin. Vormitternächtlich über Bücher zu plaudern, die er wahrscheinlich nicht mal seinen ärgsten Feinden zur Straflektüre verordnen würde, war dann doch nichts für den unnachgiebigen, nach Reibung hungernden Geist. Und so widmete Maxim Biller, 57, sich wieder dem, was er ohnehin am besten kann: dem Verfassen seiner geschliffenen Prosastücke, die 2008 in Übersetzung sogar den Weg in einen amerikanischen Verlag fanden.
Mit Büchern wie "Bernsteintage" (2004), "Liebe heute" (2007) und der Novelle "Im Kopf von Bruno Schulz" von 2013 führte Biller vor, wo seine erzählerischen Stärken liegen, nämlich in der kleinen und mittleren Form, "bei der jedes Wort zählt", wie Raymond Carver einmal befand. Darin erinnert sein Schreiben an die späten, nur vom Umfang her "kleinen" Romane von Philip Roth, in denen alles Epische eingeschmolzen ist zu Geschichten, die die Essenz menschlichen Seins und Fühlens kondensieren.

Maxim Biller
Foto: Christian WernerDie großen, jüdisch-amerikanischen Erzähler Bernard Malamud, Isaac B. Singer oder Roth dürften für Biller ohnehin von jeher die heimlichen Fixpunkte seines Schreibens gewesen sein. Und nach dem höchst ambitionierten, aber leider hoffnungslos überladenen Riesenroman "Biografie" von 2016, in dem Stoff für tausendundeine wundervolle Biller-Short-Story steckt, hat er sich mit seinem neuen, ungleich strenger gefassten Roman "Sechs Koffer" nun tatsächlich in deren Sphären hinaufgeschrieben.
Das ineinander verzwirbelte Wurzelwerk der Familie
Denn kaum je hat man in den vergangenen 30 Jahren ein Werk deutscher Sprache gelesen, das so licht und verspielt und dabei so streng, ergreifend und konzis davon erzählte, was Familie sein heißt. Und wie leicht es manchmal ist, dieses über Generationen hin gewachsene, aus ungezählten ineinander verzwirbelten Wurzelsträngen zusammengehaltene Gebilde ins Wanken zu bringen.
In Billers Roman geschieht das durch ein toxisches, sich über Jahrzehnte hinweg gegen Ausrottungsversuche resistent erweisendes Gerücht. Nach und nach ergreift es die Mitglieder einer aus Russland und der Ex-Tschechoslowakei stammenden Familie - und scheint sie zu zerreißen. Die Charaktere wirken, als wären sie Billers eigener Familie abgelauscht - und repräsentieren doch zugleich alle Familien, so exemplarisch hat der Autor sie erfasst und aufgestellt.
Jedes Familienmitglied ist für sich ein unsicherer Kantonist - und die Versuche seines Erzählers, die jeweiligen geheimen Motivationen zu entschlüsseln, sind ein nicht enden wollender Spuk! Denn rundum nehmen sie alle mal den einen, mal den anderen kritisch ins Visier, beschuldigen und diffamieren, bloß um von den eigenen Fehltritten abzulenken. Das Ergebnis ist eine einzige große Prager Verstrickung!
Preisabfragezeitpunkt
27.03.2023 20.17 Uhr
Keine Gewähr
So trägt die Frage, wer das Oberhaupt der russisch-jüdischen Familie durch Verrat in der Sowjetunion an den KGB-Galgen gebracht hat, durch eine zwischen Prag, Hamburg, Zürich, Berlin und Moskau hin und her springenden Handlung. Verdächtige gibt es in diesem Rondo der Täuschungen und falschen Bekenntnisse schließlich mehr als genug.
Die Nachkriegsjahre flirren vorbei
War es der Onkel, der eben aus dem Gefängnis kommende "freundliche, ungeschickte" Dima, den alle, auch seine beiden Brüder, für einen ausgemachten Schweinehund halten? Oder vielmehr einer von ihnen, Lev zum Beispiel, der irgendwann in der Schweiz untergetaucht ist? Und welche Rolle spielten bei dem Ganzen eigentlich die Frauen?
So nimmt der Chronist der Ereignisse im Rahmen seiner großangelegten Suche nach dem Schwarzen Schaf in der Familie reihum jeden einzelnen mal augenzwinkernd, mal bitter-streng unter die Lupe. Und die Nachkriegsjahrzehnte, die mit all ihren gesellschaftlichen und politischen Umbrüchen und Verwerfungen den Erzählhintergrund bilden, flirren am Leser vorbei wie die Motivserien eines View-Masters .
"Alles ist da, also nichts" heißt es in einer Erzählung von Albert Camus mit Blick einer der Figuren auf ihre schwer durchschaubare Welt. Maxim Biller hat's begriffen - und einen wundervollen Roman daraus geschöpft, in dem er zaubertrickhaft scheinbar alles von sich und den Seinen erzählt - und am Ende doch nichts wirklich verrät. Bravo!