Bestsellerautorin Meg Wolitzer "Sex und Familie, das ist ein Quell von Seltsamkeiten"

US-Autorin Wolitzer: Romane über Eltern - und Sexbücher
Foto: Nina SubinDie amerikanische Autorin Meg Wolitzer feierte im vergangenen Jahr mit ihrem Bestseller "Die Interessanten" ihren Durchbruch in Deutschland. Jetzt erschien ihr Roman "Die Stellung" in Deutschland - zehn Jahre nach der Erstveröffentlichung in den USA.
"Die Stellung" porträtiert die amerikanische Familie Mellow, deren Vorstadt-Idyll an einem skandalösen Sexbuch zerbricht, das die Eltern Mitte der Siebzigerjahre veröffentlicht hatten. Als die vier minderjährigen Kinder davon erfahren, versucht jedes für sich mit dieser Peinlichkeit umzugehen - bis die Wege der Familienmitglieder sich trennen. Wolitzer beschreibt in "Die Stellung" einfühlsam, wie schwierig es ist, das Kind der eigenen Eltern zu sein.
SPIEGEL ONLINE: Frau Wolitzer, wie ist es, zehn Jahre nach der Erstveröffentlichung noch einmal mit "Die Stellung" auf Tour zu gehen?
Wolitzer: Es freut mich sehr. Ich bin ja schon sehr lange Schriftstellerin. Ein Freund hat mich daher kürzlich scherzhaft einen 30-Jahre-über-Nacht-Erfolg genannt.
SPIEGEL ONLINE: Wann hat man es als Schriftsteller geschafft?
Wolitzer: Das ist schwer zu sagen. Als Schriftsteller kann man sich über Nacht wie ein Star oder wie ein Versager fühlen. Die Frage ist: Was ist überhaupt Erfolg? Ist es ein Erfolg, viele Leser zu haben, oder beim Schreiben ein wichtiges Kapitel zu beenden, auf das man selbst stolz ist? Das muss jeder für sich selbst entscheiden.
SPIEGEL ONLINE: Was ist Erfolg für Sie?
Wolitzer: Für mich persönlich war der erste große Erfolg, überhaupt veröffentlicht zu werden. Das war 1982 und hat über Nacht alles verändert. Damals dachte ich: Wow, das ist jetzt einer dieser großen Momente! Es war ein tolles Gefühl. Natürlich tut es immer noch gut, zum Beispiel gute Kritiken zu bekommen, aber ich finde, man sollte nicht auf sein Leben blicken wie auf seine eigene Biografie. Erstens weil es narzisstisch ist und zweitens weil man sich dann selbst objektiviert. Das mag jetzt etwas sentimental klingen, aber das beste Gefühl gibt mir das Schreiben selbst.

Meg Wolitzer, Jahrgang 1959, veröffentlicht seit 1982 Romane, mit denen sie in den USA große Bekanntheit erlangt hat. In Deutschland gelang ihr erst im vergangenen Jahr der Durchbruch mit dem Bestseller "Die Interessanten".
SPIEGEL ONLINE: Im März 2012 veröffentlichten Sie in der "New York Times" den Essay "The Second Shelf" , in dem Sie beklagen, dass Frauen im Literaturbetrieb zweitrangig behandelt werden. Was hat sich seitdem getan?
Wolitzer: Der Essay hat etwas bewegt. Viele hatten dieses Ungleichgewicht zwischen Frauen und Männern gar nicht wahrgenommen. Ich weiß von einem Literaturmagazin, das seitdem darauf achtet, eine gleiche Anzahl an Beiträgen von Frauen und Männern zu veröffentlichen. Es ist eine öffentliche Diskussion entstanden, das ist das wichtigste. Aber natürlich gibt es auch viele Dinge, die sich nicht verändern.
SPIEGEL ONLINE: Zum Beispiel?
Wolitzer: Zum Beispiel sehen viele Buchcover weiblicher Autorinnen verträumt und mädchenhaft aus, während die Buchcover männlicher Autoren den Titel in großen Lettern zeigen und durch ein Zitat unterstützt werden wie: "Dieses Buch ist ein Ereignis!" Wir alle wollen, dass unsere Bücher Ereignisse sind, dass sie bedeutungsvoll sind. Diese Cover senden das falsche Signal: an potenzielle Leser, die sich nicht angesprochen fühlen, und auch an Kritiker, die so in der Entscheidung beeinflusst werden, welches Buch wichtig ist und welches nicht.
SPIEGEL ONLINE: Was muss sich verändern?
Wolitzer: Es gibt sehr viele Autorinnen, die Anerkennung bekommen - keine Frage. Aber viele preisgekrönte Romane werden aus männlicher Sicht erzählt. Was sich verändern muss, ist die Annahme, dass die männliche Perspektive die allgemeingültige ist. Sexismus ist ein weltweites Problem, die Ungleichheit männlicher und weiblicher Autoren ist dafür nur ein Beispiel. Wir hatten gehofft, dass diese Ungleichheiten mit dem Feminismus aus dem Weg geräumt wurden, aber das sind sie nicht. Es muss weiterhin darüber gesprochen werden. Junge, feministische Autorinnen wie Lena Dunham sind diesbezüglich sicher wichtige Figuren.
SPIEGEL ONLINE: In Ihrem Roman "Die Stellung" beschäftigt das von den Eltern veröffentlichte Sexbuch alle Familienmitglieder ein Leben lang. Sie reden aber nie miteinander darüber. Ist das exemplarisch für Eltern-Kind-Beziehungen?
Wolitzer: Ich kenne beide Seiten: die des Kindes und die der Mutter. Ich denke, Eltern versuchen ihr bestes, ihre Kinder mit Informationen über das Leben zu versorgen. Aber manchmal wollen die Kinder das gar nicht von ihren Eltern hören. Informationen sammeln wir meist nicht während großer Eltern-Kind-Gespräche, sondern dann, wenn wir etwas aufschnappen, das wir gar nicht hören sollten. Als Eltern bereut man von Zeit zu Zeit viele Dinge, die man seinen Kinder hätte sagen oder nicht sagen sollen. Wir verpassen häufig die Chance, miteinander zu reden. Das ist schade, denn wir haben nur eine begrenzte Zeit zu leben und eine Familie zu sein.

Meg Wollitzer:
Die Stellung
DuMont;
368 Seiten; 19,99 Euro
SPIEGEL ONLINE: Wie ist es in "Die Stellung"?
Wolitzer: Die wichtigen Fragen lauten: Was wäre nur gewesen, wenn die Eltern ihren Kindern erklärt hätten, dass sie ein Sexbuch geschrieben haben? Was für ein Horror wäre das für die Kinder gewesen! Für mich war der Moment, in dem die Kinder das Buch der Eltern finden, der Moment, in dem sie realisieren: Unsere Eltern haben ein eigenes Leben und jetzt ist es an der Zeit, dass auch wir unser eigenes Leben leben.
SPIEGEL ONLINE: Übernehmen wir Elemente aus dem Leben unserer Eltern in unser eigenes?
Wolitzer: Man ist als Kind der Eltern Teil einer Konstellation, einer Einheit. Egal, ob man sich wünscht, später zu sein wie die eigenen Eltern oder genau das niemals sein will: Es bleiben oft zumindest kleine Berührungspunkte mit dem Leben der Eltern. Wenn man älter und frei von Teenager-Wut ist, nimmt man das dann meist auch gerne und liebevoll an.
SPIEGEL ONLINE: Gibt es in Ihren Roman auch autobiografische Elemente?
Wolitzer: Ich schreibe nicht gerne autobiografisch. Mich fasziniert es, Menschen in verschiedenen Phasen ihres Lebens zu beobachten und zusammen zu bringen. Natürlich beeinflusst alles, was ich selbst einmal erlebt habe, auf irgendeine Weise meine Romane. Als ich jung war, hat meine Mutter auch ein Buch veröffentlicht. Aber es war kein Sexbuch, es war ein Roman mit einer einzigen Sexszene.
SPIEGEL ONLINE: Wie fanden Sie das?
Wolitzer: Ich erinnere mich, wie unglaublich stolz ich auf sie war. Gleichzeitig war es mir natürlich peinlich, wenn die Jungs aus der Schule mich damit aufgezogen haben. Mein Vater war außerdem Therapeut und hatte in seinem Büro all diese beängstigenden Bücher über Familien, Sexualität und Selbstmord. Diese Erinnerung ist bestimmt auch unterbewusst in meine Romane eingeflossen. Bevor ich angefangen habe, "Die Stellung" zu schreiben, poppte einfach plötzlich die Idee in mir auf: Sex und Familie, das ist ein Quell von Seltsamkeiten.
SPIEGEL ONLINE: Welches Thema beschäftigt Sie in ihren neuen Projekten?
Wolitzer: Mein neues Buch erscheint im Januar. Es handelt von verschiedenen Vorstellungen von Macht. Außerdem wird mein Roman "The Wife", der in den USA 2004 erschienen ist, ins Deutsche übersetzt - und verfilmt.