SPIEGEL Bestseller – Mehr Lesen mit Elke Heidenreich Hier stimmt die Chemie
Elke Heidenreich, Autorin und Buchkritikerin
Ich lese Ihnen was vor, den Anfang des Buches, das ich Ihnen heute vorstelle:
»November 1961. Damals im Jahr 61, als Frauen Hemd-Blusen-Kleider trugen und Gartenvereinen beitraten und zahllose Kinder bedenkenlos in Autos ohne Sicherheitsgurte herumkutschierten. Damals, bevor überhaupt jemand ahnte, dass es eine 68er-Bewegung geben würde. Und erst recht nicht eine, von der ihre Teilnehmer die folgenden 60 Jahre erzählen würden. Damals, als die großen Kriege vorbei waren und die geheimen Kriege gerade begonnen hatten und die Menschen allmählich anfingen, neu zu denken und zu glauben, alles wäre möglich. Da stand die dreißigjährige Mutter von Madelaine Zott jeden Morgen vor Tagesanbruch auf und war sich nur einer Sache ganz sicher: Ihr Leben war vorbei«.
Das Gegenteil ist der Fall. Das ist vielleicht ein Granatenroman, ich sage Ihnen! Bonnie Garmus, eine Kalifornierin, hat ein Buch geschrieben »Eine Frage der Chemie« und ich habe lange nicht ein so unterhaltendes, witziges und kluges Buch gelesen, wie dieses. Es geht um Elizabeth Zott. Und die ist so natürlich und so toll dargestellt, eine Wissenschaftlerin, eine Chemikerin, dass ich immer gegoogelt habe, die muss es doch wirklich geben. Und ich habe sogar beim Verlag angerufen und gesagt »Das ist doch Fake, die gibt es doch, oder?«. »Nein« haben die gesagt, »die ist wirklich ausgedacht, die gibt es nicht.«
Und diese Elizabeth Zott, in die verliebt man sich total. Das ist eine Wissenschaftlerin, das Buch geht dann zehn Jahre zurück in die Fünfziger, eine Chemikerin, die an einem Institut in Hastings arbeitet und von den Männern nur gemobbt und gedemütigt wird. Weil, wie sollen Frauen denn Wissenschaftler sein? Wie soll das denn möglich sein? Wie das halt so ist. Man muss sich viele dumme Sprüche anhören. Und dann lernt sie einen kennen, der ein bisschen ein Außenseiter ist, wie sie, einen großen, schlaksigen, eigentlich unfreundlichen Menschen. Der heißt Calvin Evans und die beiden verlieben sich sofort ineinander. Das heißt »eine Frage der Chemie«, die Chemie zwischen ihnen stimmt und sie forschen gemeinsam. Er erkennt sofort das intellektuelle Potenzial dieser Frau. Sie verstehen sich blind, sie ziehen zusammen, sie lieben sich. Er möchte sie so gerne heiraten. Sie will aber diesen ganzen Quatsch mit Ehe und Heirat nicht. Sie will arbeiten. Und ich erzähle Ihnen jetzt nicht, warum es da kein Happy End gibt, denn sie sollen selber noch ein Lesevergnügen haben. Aber es gibt kein Happy End und sie ist schwanger von ihm, mit einem kleinen Mädchen, das sie dann kriegt, das sie allein aufzieht und mit großen Schwierigkeiten, denn in Hastings ist sie inzwischen rausgeflogen. Man hat gesagt, sie an sich ja nur an den gehängt. Man hat ihre Ergebnisse benutzt, und die Männer haben sie als ihre eigenen veröffentlicht und sie ist wirklich..., sie ist am Arsch.
Und jetzt kommt..., durch Zufall lernt sie einen Menschen kennen, der Redakteur ist beim Fernsehen und die produzieren eine Kochshow in den Sechzigerjahren. Und der sieht in ihr eine toughe, selbständige Frau und sagt: »Die kann doch mal diese Kochshow moderieren, wir suchen da so jemanden«. Und sie macht das, weil sie Geld braucht. Und jetzt ist aber Elizabeth Zott Chemikerin. Und sie sagt nicht: »Wir tun jetzt die Kartoffeln mit Salz ins Wasser und kochen die«, sondern sie sagt, »wir nehmen die Knollenfrucht tun sie in H2O und tun auch ein bisschen Natriumchlorid drauf.« Und der Produzent tobt und sagt: »Mein Gott, kann die sich nicht ein bisschen sexy anziehen? Kann sie nicht Salz sagen statt Natriumchlorid?« Kann sie aber nicht, sie macht ihr Ding. Und sie nimmt eine Tomate und sagt: »Diese Tomate hat viel mit ihnen gemein, denn sie ist zu 60 Prozent dasselbe, dieselbe DNA wie der Mensch, nämlich Wasser.« Und dann zeigt sie ein Bild von Rosa Parks, das war die schwarze Frau, die sich damals in einen Bus gesetzt hat und für einen Weißen nicht aufgestanden ist, eine Bürgerrechtlerin. Und sie sagt: »Mit Rosa Parks haben Sie 99 Prozent DNA-Übereinstimmung, wollte ich nur mal so sagen.« Und er schäumt und sagt: »Politik gehört nicht in eine Kochsendung.« Für Elizabeth Zott aber schon. Und sie sagt am Ende jeder Sendung: »So Kinder, eure Mutter hat jetzt gekocht, jetzt braucht die mal ein paar Minuten für sich allein. Jetzt deckt ihr mal den Tisch«. Und langsam fangen im ganzen Land die Frauen an, anders zu denken, sich mehr zuzutrauen, weil sie auch in jeder Sendung die Menschen motiviert, sich mehr zu trauen.
Und der Produzent tobt und entlässt sie. Und wie es weitergeht, will ich alles gar nicht erzählen. Ich will nur sagen, dass ich selten ein so unterhaltendes, kluges Buch darüber gelesen habe, wie Frauen sich in einer Männerwelt durchsetzen müssen. Vor allem, wenn es eine wissenschaftliche Welt ist, was sie sich für einen Mist anhören müssen, dass sie das alles nicht können. Aber unsere Elizabeth kann's und es geht gut aus. Und leider sind die letzten zehn Seiten sind ein bisschen Rosamunde Pilcher, aber zehn von 460 ist nicht so schlimm. Es ist ein großartig erzähltes, witziges, gescheites Buch, in dem am Ende alles ein bisschen zu gut aufgelöst wird. Aber das wollen wir ihr verzeihen.
Und das Buch hat mich erinnert an ein Anderes vor rund 20 Jahren, Per Olof Enquist »Das Buch von Blanche und Marie.« Das ist auch ein Buch über zwei Wissenschaftlerinnen, vor allem über eine, nämlich Marie Curie, die nach dem Tod ihres Mannes Pierre zusammenarbeitete, mit Blanche Wittman. Das war die berühmteste Hysterikerin ihrer Zeit. Ende des 19. Jahrhunderts hat Professor Charco, der Lehrer von Sigmund Freud, in Paris an der Salpêtrière, sie im Raum vorgeführt und an ihrer Hysterie erklärt. Sehr fragwürdige Experimente. Und sie wurde die Assistentin von Marie Curie. Das alles ist nicht wirklich belegt. Es Ist bei Enquist viel Fiktion. Einiges stimmt, einiges nicht. Beide Frauen wussten nicht, wie gefährlich Röntgenstrahlen sind, an denen Curie ja forschte. Und ihre Freundin Blanche verlor beide Beine und einen Arm und fuhr in einer Rollkiste herum und lebte bis zu ihrem Lebensende bei Marie Curie, die, wie wir wissen, als erste Frau gleich zwei Nobelpreise gekriegt hat, den für Chemie und den für Physik.
Also auch spannend zu lesen, beide Bücher über Frauen in der Wissenschaft. Aber dieses hier ist ganz besonders schön. Und eine Anekdote muss ich Ihnen aus »Eine Frage der Chemie« noch erzählen. Ihr Redakteur liebt sie sehr, weil er sieht, dass die Sendung im ganzen Land beliebt ist. Aber ihr Produzent hasst sie und lässt sie in sein Büro kommen und sagt: »Ziehen Sie sie ein bisschen mehr sexy an. Mal bitte hohe Absätze und sagen Sie endlich Salz statt Natriumchlorid.« Und sie sagte: »Ich denke gar nicht daran, dass ist meine Sendung«. Und er sagt: »Ich produzier' die und dann entlass ich sie eben«. Sagt sie: »Ja, dann entlassen sie mich eben.« Daraufhin schließt er sein Büro ab, stellt sich vor sie hin, macht die Hose auf, holt sein mickriges Schwänzchen raus und sagt: »Das hätte ich längst tun sollen.« Und sie macht ihre Handtasche auf und holt ihr 35 Zentimeter langes Tranchiermesser raus, sie hat zum Kochen immer ihre eigenen Messer, zeigt es ihm nur so und er fällt in Ohnmacht und die Kündigung ist erledigt. Also so was ist natürlich ganz wunderbar zu lesen. So, das habe ich Ihnen jetzt erzählt.
Und jetzt gucken wir, was die Spiegel-Bestsellerliste macht in dieser Woche:
Ist das der Abschied aus der Bestsellerliste? Edgar Selge und sein auto-fiktionaler Roman »Hast du uns endlich gefunden« erzählen aus der Kindheit des Schauspielers und wie es ist, als Sohn eines Gefängnisdirektors aufzuwachsen. Letzte Woche noch Platz acht, diese Woche auf Platz zehn.
Auf Platz neun ebenfalls ein alter Bekannter: Bernhard Schlink mit seinem Roman »Die Enkelin«. Die Geschichte um Familiengeheimnisse, welche die Hauptfigur Kaspar ins rechtsradikale Milieu in Ostdeutschland führt, ist bereits seit 25 Wochen in den Top Ten.
Acht Jahre mussten Brenner-Fans auf diese Fortsetzung warten: Der vom Leben schwer gezeichnete Detektiv, der in den Verfilmungen dieser Reihe vom österreichischen Superstar Josef Hader gespielt wird, arbeitet mittlerweile auf einem Recyclinghof und findet im Müll ein menschliches Knie. Die Polizei ist ratlos. Doch Ex-Polizist Brenner nimmt sich der Sache an. »Müll« von Wolf Haas – diese Woche auf der Acht.
Stabil auf der Sieben, wie in der Vorwoche auch, Laetitia Colombani mit ihrer Geschichte über mutige, starke Frauen in »Das Mädchen mit dem Drachen.«.
Nicht mehr wegzudenken aus dieser Liste: Carsten Henn und sein »Buchspazierer« liefern auch diese Woche wieder des Nachts Bücher an ihre Leser*Innen.
Und das ist das neue Buch von Carsten Henn, »Der Geschichtenbäcker«: Tänzerin Sophie leidet unter dem Ende ihrer Profikarriere. Eigentlich wollte sie ihren Hilfsjob in der Bäckerei sofort wieder kündigen. Doch ihr neuer Kollege, der italienische Bäcker Giacomo und seine Fähigkeiten faszinieren Sophie so sehr, dass sie anfängt, im Brotbacken mehr zu erkennen. Ein Buch darüber, sich selbst anzunehmen, wie man ist und über das Glück der kleinen Dinge – letzte Woche eingestiegen auf der Vier, diese Woche auf Platz fünf.
Auf Platz vier diese Woche Jan Weilers Vater-Tochter-Geschichte »Der Markisenmann.« Die fünfzehnjährige Kim verbringt die Sommerferien bei ihrem Vater, den sie bis dato noch nie gesehen hat. Sowohl das Leben des erfolglosen Markisenvertreters als auch das der Teenagerin ändert sich durch ihr Kennenlernen schlagartig.
Eben noch auf Elke Heidenreichs Tisch und jetzt auch ganz vorne in der Bestsellerliste: »Eine Frage der Chemie« von Bonnie Garmus ist eine Geschichte über die Veränderung von Aggregatzuständen, nämlich sowohl die der amerikanischen Gesellschaft der Fünfzigerjahre als auch die von Essen im Kochtopf. Im Roman träumt die alleinerziehende Elizabeth davon, Chemikerin zu werden, findet sich aber bald als Köchin der TV-Show »Essen um sechs« wieder. Doch das Kochen bleibt für Elizabeth reine Chemie.
Stabil auf der Zwei, auch diese Woche: Die amerikanische Krimiautorin Elizabeth George, die ihre Geschichten meist in englischen Städten ansiedelt und ihr neuester Roman »Was im Verborgenen ruht«. Darin ermittelt Inspector Thomas Lynley in der nigerianischen Community Nord-Londons und trifft auf Mord, Menschenrechtsverletzungen und eine Mauer des Schweigens.
Und er hat es mal wieder geschafft: Bestsellerlisten-König Sebastian Fitzek ist die neue und alte Nummer Eins. Dieses Mal hat Fitzek sich Hilfe geholt von TV und Radiomoderator Micky Beisenherz. Das Autorenduo erzählt ihn »Schreib oder stirb« die Geschichte des Literaturagenten David Dolla, der für einen Psychiatrieinsassen einen millionenschweren Verlagsdeal einfädeln soll. Kommt der Deal zustande, könnte Dolla damit womöglich ein Leben retten. Aber sagt der Patient in der Psychiatrie die Wahrheit? Eine moralische Zwickmühle für Dolla, die bei Krimi Fans offensichtlich gut ankommt.