SPIEGEL Bestseller – Mehr Lesen mit Elke Heidenreich »Ich liebe die Sonderlinge!«
Elke Heidenreich, Autorin und Buchkritikerin
Dagmar Leupold hat ein ganz wunderbares Buch geschrieben. Ich habe es durch Zufall in die Hände gekriegt und konnte nicht aufhören zu lesen. »Dagegen die Elefanten«, heißt es. Es ist im Jung und Jung Verlag erschienen, und der Titel ist ja etwas sonderbar. Aber das Buch erzählt auch von einem sehr sonderbaren Menschen – von Herrn Harald.
Herr Harald ist der Mann, der in der Oper Garderobe entgegennimmt, und zwar vom Balkon oben links. Und das macht er sein Leben lang schon. Und wenn er nicht in der Oper ist, wird er auch mal ausgetauscht für die Philharmonie oder für ein Konzerthaus und nimmt da die Mäntel entgegen. Er nimmt sie entgegen, und er riecht Bratenfett oder Parfum. Er sieht abgestoßene Säume, fehlende Knöpfe. Er guckt die Leute dazu an und dann setzt er sich auf seinen Schemel und lernt in einem Italienischbuch italienisch. Das Buch ist mal irgendwann an der Garderobe liegen geblieben.
Herr Harald ist immer wie aus dem Ei gepellt. Er hat ein weißes, gebügelte Hemd an, obwohl er einen Kittel darüber zieht und man nur den Kragen sieht. Er trägt weiße Handschuhe, zum Teil, um die Mäntel nicht alle anfassen zu müssen, zum Teil aber auch, weil er ein Ekzem auf den Händen hat. Er lebt allein und wir erfahren jetzt seinen Alltag. Einen Alltag, der durch Rituale gekennzeichnet ist. Ganz bestimmte Schritte, ganz bestimmte Vorhaben. Heute Waschsalon, heute Einkaufen. Und nach und nach merken wir, wie einsam Herr Harald ist. Einmal sieht er einen Tierfilm über das Leben der Elefanten, und dann denkt er: »Also dagegen die Elefanten, die haben ein großes soziales Leben. Ich eigentlich nicht.« Und abends freut er sich, wenn er unter seiner Bettdecke seinen Pyjama findet. So ist doch jemand da, der auf ihn wartet. Manchmal blitzt durch, was das Haraldkind, so wird es dann genannt, in seiner Jugend an Verletzungen und Verächtlichkeiten und Wunden erleben musste, sodass ein solcher Sonderling aus ihm wurde.
Und ich liebe die Sonderlinge in der Literatur, die Oblomows, die Taugenichtse. Ich lese so was wahnsinnig gern. Und wie Dagmar Leupold das beschreibt, so liebevoll, so gründlich, so ganz genau in die feinsten Verästelungen, wie Herr Harald eine U-Bahnfahrt übersteht mit zu vielen Menschen und wie er versucht, seinem Leben einen Rahmen zu geben, dass er es aushält, indem er ebendiese ganzen Rituale hat.
Und jetzt passieren zwei ganz ungewöhnliche Dinge in Herrn Haralds Leben. Das erste ist, er verliebt sich so ein bisschen, und zwar in die Umblätterin auf dem Podium, wenn ein Pianist da ist. Da sitzt ein Mädchen mit fohlenfarbenem Haar. Er denkt bei sich, sie könnte Marie heißen oder auch Johanna. Und sie wird genauso wenig beachtet wie er. Sie ist die Frau, die einfach nur dasitzt, mit flachen Schuhen im schwarzen Kleid, und die vorsichtig umblättert, wenn der Pianist unten an die Seite gekommen ist. Sie wird nie beachtet, sie kriegt nie Applaus, genau wie er mit seinen Mänteln.
Und das Zweite, was passiert: Eines Tages bleibt ein Mantel hängen und Herr Harald überlegt lange und wartet lange. Wem gehört dieser Mantel? Hat er sich erinnert, wer den anhatte und ihn hängen ließ, ein Trenchcoat. Dieser Mensch meldet sich nicht, er nimmt den Mantel vom Haken am Ende. Und er merkt, die Tasche ist schwer und er fasst rein und darin ist einen Revolver. Und jetzt wird etwas gesponnen aus der Liebe zu dieser Umblätterin, aus diesem Revolver. Was macht er damit, er nimmt ihn mit nach Hause.
Es ist nur eine Schreckschusspistole und sein ganzes Leben kommt ein bisschen in Unruhe durch diese Sachen. Ich will auch nicht verraten, wie es ausgeht, außer, es geht nicht gut aus. Und ich habe dieses Buch so wahnsinnig gern gelesen, weil es das Gegenteil von mir ist. Es ist langsam, es ist gründlich, es ist ganz aufmerksam, es ist ganz liebevoll und es hat mich zutiefst gerührt, wie Dagmar Leupold diesen armen Menschen beschreibt, zu dem eine Türschließerin mal sagt: »Es gibt Leben mit Walzer, und es gibt Leben ohne Walzer.« Sein Leben ist ein Leben ohne Walzer, aber er versucht, das Beste daraus zu machen. »Dagegen die Elefanten« von Dagmar Leupold.
Und während ich das las, fiel mir ein anderes Buch ein, das vor drei Jahren erschienen ist, vom Schweizer Schriftsteller Alain Claude Sulzer, der mir auch ein lieber Freund ist. Aber nicht deshalb stelle ich das Buch vor, sondern das schildert auch so einen Sonderling. »Unhaltbare Zustände« sind die, in denen Herr Stettler sich… Jetzt muss ich nachgucken, heißt er wirklich Stettler? In diesem Moment, da habe ich Angst, dass ich ihn den Namen... doch er heißt Stettler, also, in denen Herr Stadler sich befindet, die »Unhaltbaren Umstände«. Stettler dekoriert seit Jahren für ein Kaufhaus die großen Fenster mit Schaufensterpuppen. Frühling, Sommer, Herbst und Winter sehen anders aus. Ostern kommen die Häschen, Weihnachten kommen die Engelchen. Aber die Zeiten ändern sich. Die Umstände sind unhaltbar geworden. Auf der Kirche weht plötzlich die Viet-Cong-Fahne. Wir sind im Jahr 1968 und Häschen und Streiks gegen den Vietnamkrieg, das geht nicht mehr zusammen und auch seine Welt zerbröckelt allmählich.
Und dieser einsame Stettler hat auch eine Liebe. Er verliebt sich in eine Radiopianistin und er schreibt ihr Briefe und daraus entsteht so etwas. Und auch das geht nicht gut aus. Also die Sonderlinge in der Literatur, das muss man schon beschreiben können, ohne dass es langweilig wird, denn das sind die Menschen, die wir nie wahrnehmen. Und genau dafür ist Literatur da, uns von diesen Menschen so eindrücklich und liebevoll zu erzählen, wie es diese beiden Autoren hier gemacht haben. Dagmar Leupold, »Dagegen die Elefanten«, Jung und Jung. Und Alain Claude Sulzer, »Unhaltbare Zustände«, erschienen bei Galiani. Und jetzt gucken wir, was so auf der Bestsellerliste an Zuständen sich rumtreibt:
Auf der Zehn landet diese Woche Sibylle Bergs Roman »RCE« – kurz für #RemoteCodeExecution. Darin programmieren fünf Hacker die Weltrettung – es ist die literarische Fortsetzung ihrer Dystopie »GRM - Brainfuck«. Wir bleiben im hypernervösen Gegenwartsgefühl und beim Bauplan für die Weltrevolution – darunter macht Sibylle Berg es nicht.
Auf Platz neun geht es dafür um die kleinen Dinge des Lebens, die ganz analog Freude bereiten. Vielschreiber Carsten Henn beglückt diesmal seine Fans mit dem Wohlfühlbuch »Der Geschichtenbäcker«. Und tatsächlich widmet sich der Autor der Kunst des Brotbackens.
Ein weiteres Wohlfühlbuch steigt zwei Plätze ab auf die acht: Der Roman in Lavendelfarbe, der da auch in der deutschen Ausgabe »Lonely Heart« heißt. Mona Kasten ist Autorin der »Scarlet Luck«-Serie. Im ersten Teil erleben wir die Liebesgeschichte von Rosie und Adam. Sie Webradio-Host, er Schlagzeuger und es soll ein Happy End geben.
Ebenfalls um zwei Plätze nach unten gepurzelt. Das erfolgsgewohnte Autorenduo Micky Beisenherz und Sebastian Fitzek. Ihre Thriller-Komödie, so heißt offenbar das Genre, heißt »Schreib oder stirb«. Diese Woche auf der Sieben.
Ein Neueinstieg direkt auf Platz sechs: Renate Bergmann, ihres Zeichens Online-Omi, ist eigentlich bekannt als Twitteraccount @renatebergmann. In »Dann lassen wir eben die Heizdecke weg« gibt die Kunstfigur Spartipps und jede Menge anderer Lebensweisheiten von sich – erfolgreich auch in Buchform.
Von der drei auf die Fünf fällt diese Woche der gebürtige Schotte Martin Walker mit seinem 14. Fall für den französischen Kommissar Bruno: »Tête-à-Tête« heißt der Roman. Diesmal geht es um einen ungelösten Mordfall, bei dem archäologische Rekonstruktionen eine große Rolle spielen.
Sehr beständig bleibt die Bestsellerautorin Ildikó von Kürthy auf der Liste. »Morgen kann kommen« der sogenannte Frauenroman über Mut zur Veränderung kommt ganz in Pink daher. Dabei geht es um Aufbruch und Neuanfänge und wie man sie meistert. Auch diese Woche auf der vier.
Den zweiten Neueinstieg der Woche beschert Uwe Tellkamp, der 2008 mit seinem Roman »Der Turm« für Furore sorgte. Sein Nachfolgeroman »Der Schlaf in den Ohren« ist mit 900 Seiten ebenso gewaltig wie der Vorgänger und für einige Rezensenten schlicht unlesbar. Ob das tatsächlich so ist – muss jeder Leser für sich entscheiden. Die drei der Woche.
Und Wacker auf der Zwei bleibt auch diese Woche der von Elke Heidenreich gefeierte Roman »Eine Frage der Chemie«. Der Erstlingsroman der Amerikanerin Bonnie Garmus erzählt die Geschichte von Elizabeth Zott, die sich in den Sechzigern auf kreative Weise in der Männerwelt durchsetzt.
Und ebenfalls unverändert auf Platz eins der Woche: Affenhitze. Vom Autorenduo Klüpfel und Kobr. Nachdem der letzte Fall um den schrulligen Allgäuer Kommissar Kluftinger gefühlte ein ganzes Jahr auf der Bestsellerliste war, schnappt sich der neue Krimi erneut den gemütlichen Platz auf der Liste. Beim neuen Fall trifft Kluftinger auf den Urzeitaffen Udo.