SPIEGEL Bestseller – Mehr Lesen mit Elke Heidenreich »Das Gefühl, früher war alles irgendwie schöner«
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Elke Heidenreich, Autorin und Buchkritikern
Zwei Italienromane, ein Alter und ein Neuer. Und wenn man die beide liest, hat man das Gefühl, früher war alles irgendwie schöner. Ich fange mal mit dem Alten an:
Gianfranco Caligarich »Der letzte Sommer in der Stadt«, 1973 zum ersten Mal erschienen, jetzt wiederentdeckt und von Zsolnay, neu übersetzt von Karin Krieger, wieder aufgelegt. Und wenn man es liest, ist man – zack– in der guten alten Zeit von Fellinis »La Dolce Vita« und von Sorrentinos »La Grande Bellezza«. Wir sind in den frühen siebziger Jahren in Rom. Man fährt Vespa ohne Helm, raucht Kette und trägt coole Sonnenbrillen. Und unser Held heißt Leo Gazarra, der hat einen alten Alfa Romeo und kurvt mit dem herum. Er hängt in Bars rum. Er lässt sich treiben. Das Leben ist schön. Die Frauen sind aufregend, die Männer sind cool und die Jobs liegen praktisch auf der Straße. Man hat immer mal hier und da einen Job. Einen richtigen Beruf will man eigentlich gar nicht. Das Lebensgefühl ist lässig und mediterran. Aber unter der Fassade bröckelt es: Leo Gazarra weiß nicht so recht, was er eigentlich vom Leben will. Er weiß nur, er will genießen. Er will sich nicht binden. Diese Bohemiens, sein Freund Graziano und seine geliebte Ariana, die wollen keinen festen Beruf, lieber nur Jobs. Sie wollen keine feste Bindung, Ehe oder so was. Lieber nur kurze Verhältnisse. Sie trauen sich auch gar nicht, über Liebe zu reden. Das ist ihnen schon alles viel zu schwer. Das heißt, über dieser ganzen Leichtigkeit schwebt irgendetwas Dunkles.
Vielleicht hat es auch damit zu tun, dass der Krieg erst 25 Jahre her ist. Es ist eine Generation, die umgetrieben ist, die nicht so recht mit sich was anzufangen weiß. Ich war in diesen wilden Siebzigern in Rom, und ich erinnere mich: Man ging um 23.00 Uhr ins Kino. Kino war um 1.00 Uhr aus, und dann hing man auf den Plätzen herum und sagte: »Was machen wir jetzt mit dem angefangenen Abend?«. Das war so eine verrückte Zeit, und das spürt man auch in diesem Roman. Aber mit all dieser Bindungslosigkeit geraten diese Menschen irgendwann in eine Abwärtsspirale. Und am Ende sehen wir Leo Gazarra am Meer in einem weißen Anzug. Und das ist nicht schön, das geht nicht gut aus, das Ende. Aber ansonsten alles ist schön in diesem Buch. Rom ist schön, die Menschen sind schön, es wird lässig erzählt und alles ist ein bisschen melancholisch, eben Rom. Es ist schön, dass dieses Buch wieder zu haben ist.
Und dann ganz was anderes... Übrigens, wieder zu haben: Es hat damals einen Riesenerfolg gehabt und hat alle möglichen Preise gekriegt und war dann 50 Jahre vergessen. Warum ist das jetzt wiederentdeckt? Habe ich mich auch gefragt. Vielleicht, weil wir uns nach einer gewissen Leichtigkeit sehnen und doch wissen, dass es die nicht gibt? Keine Ahnung. Lohnt sich jedenfalls zu lesen.
So, und jetzt das Neue: Das ist von Mattia Insolia »Die Hungrigen«, »Gli Affamati«. 1995 ist dieser Autor geboren und dies ist ganz anderer Stoff. Das ist hart und ruppig. Hier geht es um zwei Brüder, die zusammen in mickrigen Verhältnissen leben, im armen Süditalien. Der ältere Paolo ist 22. Antonio ist 19, und diese Verhältnisse, in denen sie leben, sind armselig. Sie sind frustriert. Sie wollen eigentlich da raus. Über dem Buch liegt eine latente und auch sehr konkrete Gewalttätigkeit. Die Mutter ist irgendwann abgehauen mit einem anderen Mann. Der Vater ist tot. Und diese Jungs sind nicht ziellose Herumstreifende, wie die da in Rom, die ihr Leben genießen, sondern sie schleppen sich von einem blöden Job zum anderen. Und ihr Alltag ist Armut, Wut, Langeweile, verdreckte Küche, Saufen und Schlägereien. Und das einzig Gute in all dem Scheiß, die beiden Brüder hängen fest zusammen, sie lieben sich. Und Paolo passt auf den zarteren, jüngeren Antonio liebevoll auf. Er sorgt für ihn, so sehr sie sich auch streiten und anschreien. Und über diesem Buch liegt kein römischer Charme, keine italienische Melancholie. Hier wabern Gewalt, Enttäuschung und wilde Wut. Und man denkt an »Accatone«, Pasolinis Film aus den sechziger Jahren. Das sind keine glücklichen Menschen und es geht auch nicht gut aus – für einen von ihnen zumindest. Zwei sehr gegensätzliche Bücher, aus zwei sehr verschiedenen Zeiten, aus demselben Land Italien. Und über beiden könnte ein Zitat von Philip Roth stehen, das in dem einen Buch auch zitiert wird aus dem Roman »Amerikanisches Idyll«: »Er hatte die schlimmste Lektion gelernt, die einem das Leben erteilen kann – dass es sinnlos ist.«.
Und jetzt gucken wir mal, wie sinnlos oder sinnvoll die SPIEGEL-Bestsellerliste ist:
Auf die Zehn bewegt sich von der Vorwochen-Zwölf ein wahrer Yogi: Der Franzose Emmanuel Carrère praktiziert seit zwanzig Jahren Yoga –nun hat er einen gleichnamigen Roman geschrieben. Darin geht es wie immer sehr viel um den Autor selbst und seine Krankenakte. Nebenbei geht es auch um seine Ex-Frau, die das Buch übrigens gar nicht gut fand.
Beständig auf der Neun: Die Mutter-Sohn-Geschichte »Stay Away from Gretchen« von Susanne Abel. Wie der Nachrichtenmoderator Tom die Geheimnisse seiner Mutter aufspürt scheint bei den Lesern gut anzukommen. Eine verborgene Liebe gibt es auch zu entdecken.
Wie ein Gummiball springt dieses Buch immer um zwei, drei Plätze rauf und runter: »Hast du uns endlich gefunden« von Schauspieler Edgar Selge ist diese Woche auf der Acht. Autofiktional erzählt er wie es war, auf einem Gefängnisgelände aufzuwachsen – mit einem Knastdirektor als Vater.
Genauso beständig auf der Liste platziert sich diese Woche der Wohlfühlroman für Buchliebhaber. Carsten Henn schreibt für alle, die auch gern einen »Buchspazierer« hätten: Einen Buchhändler ihres Vertrauens, der den perfekten literarischen Lieferservice anbietet.
Eine Neuerscheinung gibt es diese Woche auf Platz sechs! »Crush« ist der, wie es heißt, »heißersehnte« Folgeroman des Bestsellers »Cave« von Tracy Wolff, einer amerikanischen Autorin, die ihren ersten Roman bereits in der zweiten Klasse schrieb. Inhaltlich geht es bei ihr vor allem um Drachen und Vampire – und das über 65 Bücher lang bis heute.
Einen Platz verliert diese Woche Nino Haratischwili. Ihr Roman »Das mangelnde Licht« ist eine epische Erinnerung an ihre ehemalige Heimat Georgien. Wer wissen will, wie sich das heute hippe Tiflis in den Neunzigern anfühlte, sollte dieses Buch lesen. Zu finden auf Platz fünf.
Wie Haratischwili, ist Yasmina Reza ursprünglich eine Frau des Theaters und schreibt aber auch Romane. »Serge« ist ein tragikomisches Werk über drei Kinder von Holocaust-Überlebenden, die auf einer Art »Identitätsfindungstrip« sind, der sie unter anderem nach Auschwitz bringt. Diese Woche auf der Vier.
Zwei Plätze auf die Drei klettert diesmal »Die Enkelin« von Bernhard Schlink. Der Roman des internationalen Bestsellerautors und Juristen erzählt eine Ost-West-Geschichte: Nach dem plötzlichen Tod von seiner Ehefrau Birgit spürt Kaspar ihrem Geheimnis nach. Was er findet, ist eine Enkelin unter ostdeutschen Rechtsextremen.
»Das Mädchen mit dem Drachen« ist diese Woche die Nummer zwei. Und wieder ist es eine Schauspielerin und Regisseurin, die für einen Bestseller sorgt: Die Französin Laetitia Colombani erzählt die Geschichte des indischen Mädchen Lalita, die schon in ihrem Bestsellerroman »Der Zopf« vorkam.
Ganz oben, wie schon in der Woche zuvor, finden wir: »Müll«! So heißt das Buch und es ist für viele ein lang ersehntes Wiedersehen mit dem Grazer Detektiven Simon Brenner von Wolf Haas – nach acht Jahren Brenner-Abstinenz. Worum es geht: ein menschliches Knie in der Sperrmüllwanne, um Organhandel und den neuerdings auf dem - auf österreichisch – »Mistplatz« arbeitenden Ermittler. Die Eins der Woche.